Bern / Neuenburg – Die Nominallöhne in der Schweiz sind in den vergangenen Jahren gestiegen, das Gefälle zwischen Männern und Frauen hat abgenommen, der Anteil der Tieflöhne ist stabil geblieben. Die Sozialpartner interpretieren die Ergebnisse der Lohnstrukturerhebung unterschiedlich.
Im Jahr 2022 betrug der Medianlohn einer Vollzeitstelle im privaten und öffentlichen Sektor 6788 Franken brutto pro Monat. Das heisst: Die Hälfte der Arbeitnehmenden verdiente mehr, die andere Hälfte weniger. Das geht aus den Ergebnissen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (BFS) hervor, die am Dienstag veröffentlicht worden sind.
Demnach erhielt jeder zehnte Arbeitnehmer einen Lohn, der tiefer ist als 4487 Franken brutto. Die zehn Prozent der Bestverdienenden verdienten mehr als 12’178 Franken. Laut BFS stiegen die tiefen und die hohen Löhne zwischen 2008 und 2022 stärker als die Löhne der Mittelschicht. Die Lohnschere zwischen Arm und Reich blieb weitgehend unverändert. Auch der Anteil der Tieflohnstellen an der Gesamtwirtschaft blieb im Vergleich mit früheren Erhebungen stabil.
Frauen verdienen 9,5 Prozent weniger
Die Unterschiede beim Medianlohn zwischen Männern und Frauen nahmen derweil weiter ab. Frauen verdienten im Jahr 2022 monatlich 6397 Franken brutto, Männer 7066 Franken. Das Gefälle lag damit bei 9,5 Prozent. Das sind zwei Prozentpunkte weniger als vier Jahre zuvor.
Je höher die Hierarchiestufe der Stelle, desto grösser fiel der geschlechterspezifische Lohnunterschied aus. So verdienten Frauen im Jahr 2022 in Stellen mit hohem Verantwortungsniveau 9565 Franken brutto pro Monat, während Männer auf derselben Stufe 11’212 Franken erhielten, was einer Differenz von 14,7 Prozent entspricht. Auch dieser Wert nahm laut BFS ab.
Die Lohnstrukturerhebung ist eine schriftliche Befragung, die seit 1994 alle zwei Jahre bei den Unternehmen in der Schweiz durchgeführt wird. Mehr als 35’000 Unternehmen mit rund 2,3 Millionen Arbeitnehmenden nahmen an der neusten Studie teil. Sie dient etwa als Referenz für Lohnverhandlungen zwischen den Sozialpartnern.
«Äusserst stabile Situation»
Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV), sprach von «erfreulichen Erkenntnissen» und hob die «äusserst stabile Lohnsituation in der Schweiz» hervor. Angesichts der vielen Krisen im Untersuchungszeitraum der Erhebung sei das «keine Selbstverständlichkeit». Alle Trends zeigten in die richtige Richtung.
Laut Müller gab es «kaum Spielraum» für weitere Lohnerhöhungen. Die Unternehmensgewinne seien in den vergangenen Jahren rückläufig gewesen. Dass in diesem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld der Anteil der Tieflohnstellen stabil geblieben sei, sei beachtlich.
Auch die abnehmenden Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen seien erfreulich, sagte Müller. Das verbleibende Gefälle sei zu einem substanziellen Teil durch objektivierbare Faktoren erklärbar. So legten Frauen nach der Geburt eines Kindes ihre Arbeit öfter nieder als Männer. «Dies als diskriminierend zu bezeichnen, ist statistisch gesehen unzulässig.» Trotzdem führe kein Weg an einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie vorbei.
«Ein verlorenes Jahrzehnt»
Daniel Lampart, Chefökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), äusserte sich weniger zufrieden. «Trotz guter Wirtschaftslage müssen wir feststellen, dass bei den Reallöhnen ein verlorenes Jahrzehnt droht.» Die höheren Löhne seien von der Teuerung aufgefressen worden.
Der Gewerkschafter kritisierte die Arbeitgeberschaft hart: Während der Teuerungsausgleich früher eine Selbstverständlichkeit gewesen sei, würden die Lohnverhandlungen heute mit nie da gewesener Härte geführt. Die Arbeitgeber bekennten sich nicht mehr dazu, dass jeder Lohn einigermassen zum Leben reichen sollte. «Immer mehr Haushalte haben Mühe, mit dem Geld über die Runden zu kommen.»
Laut Lampart braucht es dringend «gute Mindestlöhne», beispielsweise für Personen, die in Kitas oder in der Langzeitpflege arbeiten. Auch die Lehrlingslöhne müssten erhöht werden. Wenn keine Gesamtarbeitsverträge zustande kämen, müssten kantonale Mindestlöhne durchgesetzt werden.
Das sehen die Arbeitgeber anders: Der zunehmende Ruf nach kantonalen Mindestlöhnen entbehre jeglicher Grundlage, sagte Müller. Es sei nicht am Gesetzgeber, Sozialpolitik über Mindestlöhne zu betreiben. (awp/mc/ps)