Medien: Trotz Niederlage ist Konzernverantwortung nicht vom Tisch
Bern – Die Gegner der Konzernverantwortungsinitiative können sich trotz ihres knapp Sieges an der Urne nicht zurücklehnen. Die Kommentatoren in den Schweizer Medien sind sich einig darin, dass der Druck auf die Unternehmen hoch bleiben wird, Menschenrechte und Umweltstandards einzuhalten.
Der internationale Trend verschwinde nicht, auch wenn Schweizerinnen und Schweizer am Sonntag entschieden hätten, ihm heute nicht zu folgen, heisst es im Kommentar des «Tages-Anzeigers». In den entscheidenden Kantonen sei die Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger zum Schluss gekommen, dass die Initiative den Bogen überspanne. Das sei ein sehr schweizerischer Reflex: süüferli, süüferli. Zuerst einmal schauen, was die anderen machen, bevor der Wirtschaft Steine in den Weg gelegt werden.
Die «Neue Zürcher Zeitung» wertet den hohen Anteil der Ja-Stimmen als Erfolg für die Initianten. Sie deute auf gesellschaftliche Veränderungen hin, die freiheitlich gesinnte Kreise und Unternehmer ernst nehmen sollten. Das Abstimmungsergebnis zeige, dass Themen wie Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz in der Auseinandersetzung künftig weiter an Bedeutung gewinnen würden. Obwohl Bürgerliche und Wirtschaftskreise die besseren Antworten auf Fragen des nachhaltigen und verantwortungsvollen Handelns hätten, seien sie in die Defensive geraten.
Die Zeitungen der CH Media werten das knapp Nein des Volkes zur Konzernverantwortungsinitiative als Erfolg für Justizministerin Karin Keller-Sutter. Die FDP-Bundesrätin habe das Dossier im letzten Jahr von Simonetta Sommaruga übernommen. Keller-Sutter habe eingegriffen, als die Wirtschaftsverbände und der Ständerat sich mit aller Kraft gegen einen Gegenvorschlag des Nationalrates gestemmt hätten. Die Wirtschaftsverbände hätten die Initiative lange Zeit unterschätzt. Sie hätten zu lange ignoriert, dass in der Bevölkerung ein Unbehagen über Glencore & Co. besteht.
Die Schweizer Wirtschaft darf nach Ansicht des «Blick» nach dem knappen Sieg über die Initiative nicht hochmütig werden. Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger hätten ein ausgeprägtes Sensorium für Sinn und Unsinn von Initiativen. Sie liessen sich nicht von wohltönenden Titeln überrumpeln, sondern achteten auch auf Details. Dabei hätten viele erkannt, dass die Initiative Millionen von Menschen, denen Schweizer Konzerne rund um den Globus Arbeit geben, nichts gebracht hätte.
Nach Ansicht des Kommentators der «Südostschweiz» wird die Abstimmung vom 29. November aus zwei Gründen in die Geschichtsbücher eingehen: Zum einen sei es seit Bestehen des Bundesstaates erst einmal vorgekommen, dass eine Initiative vom Volk angenommen, aber von den Kantonen abgelehnt worden sei. Und zum anderen stehe dieser 29. November für einen Abstimmungskampf, der in Sachen Aggressivität neue Massstäbe gesetzt habe. An die Stelle von sachlichen Argumenten seien reine Propaganda und manipulierte Kampagnen getreten. Es sei zu hoffen, dass damit nicht ein neuer Trend gesetzt worden sei.
Mit der Ablehnung bleibe der Schweiz ein unnötiges Gesetz erspart und der nüchterne Gegenvorschlag komme zum Tragen, schreibt die «Berner Zeitung». Der Schutz der kleinen Unternehmen als Rückgrat der hiesigen Wirtschaft sei vielen offenbar immer noch wichtiger als der Nachweis der Nachhaltigkeit grosser Konzerne. Der «Bund» findet gar, das Vertrauen in die Konzerne sei erschreckend klein. Trotz Ablehnung der Initiative müssten die Konzerne mehr in Goodwill investieren. Doch auch die Glaubwürdigkeit der Hilfswerke stehe auf dem Prüfstand. Sie hätten im Abstimmungskampf übertrieben.
Dieser Abstimmungskampf sei kein Ruhmesblatt für die politische Kultur, heisst es im Kommentar auf dem Internetportal von watson.ch. Noch nie hätten Initianten und Gegner in gleicher Weise in die unterste Schublade gegriffen und mit Halbwahrheiten und Lügen operiert. Die Gegner hätten in düstersten Farben vor den Konsequenzen der Initiative für die Schweizer Wirtschaft gewarnt. Die vor Moralin triefende Kampagne der Initianten habe auf viele Stimmberechtige eher abstossend als aufwühlend gewirkt.
In der Westschweiz streichen die Tageszeitungen den Röstigraben bei der Abstimmung hervor. Das Ergebnis der Abstimmung zeige ein gespaltenes Land, schreibt «Le Temps». Die Spannungen seien vielfältig – Alter, Geschlecht, Stadt-Land. Der Graben habe sich gegenüber den Eidgenössischen Wahlen 2019 eher noch vertieft. Die multinationalen Konzerne, die viele Versprechungen gemacht hätten, seien nun gefordert. Sie müssten ihren Worten Taten folgen lassen.
Das Wirtschafts- und Finanzsystem der Schweiz sei mit der Initiative in seinen Grundfesten erschüttert worden, analysiert die Neuenburger «ArcInfo». Mit dem vom Bundesrat unterstützten Gegenvorschlag sei nicht mehr als etwas Zeit gewonnen worden. Die Dinge seien in Bewegung. Das zeige nicht zuletzt der fieberhafte Feldzug der Gegner. Der Druck aus der Gesellschaft nehme zu. Die Kampagne habe am Ende alle Klischees gesprengt, schreibt die «24 Heures». (awp/mc/ps)