Wenn ich Heimat sage. Dann meine ich nicht diese klebrige, die für alle Grusligkeiten, von Politik bis Schlagersongs herhalten muss. Ich meine nicht Stolz, schon gar nicht auf eine Nation oder auf die Tatsache, dass wir um Gebiete Grenzen ziehen um uns mit einer fragwürdigen Identität auszustatten, die wir mit Inbrunst zur Schau tragen oder mit grundloser Verlegenheit auf eine Karte reduzieren, die wir allenfalls beim Abholen eines eingeschriebenen Briefes vorweisen.
Stolz hat für mich mit Eigenleistung zu tun – ich schätze die Schweiz von ganzem Herzen, nicht immer, nicht überall, aber oft. Die Pünktlichkeit, Sauberkeit, die fehlenden Abfalleimer neben den Holzbänkli auf Bergwanderwegen, weil man sein mitgebrachtes Sandwich in ein Tupperware packt oder die Frischhaltefolie wieder mit nach Hause nimmt. Aber stolz bin ich deswegen nicht, ich habe nichts dazu beigetragen, hier zu leben. Es ist eher eine Art Bewusstsein meiner Privilegien und Dankbarkeit dafür. Am ersten August reflektiere ich jeweils meine Beziehung zur Schweiz, zur Dankbarkeit und zu diesen Privilegien, frage mich, ob ich sie richtig nutze und im Rahmen meiner Möglichkeiten dafür einsetze, weniger Privilegierten zu einem besseren Leben zu verhelfen und zu dieser Schweiz etwas Positives beizutragen. Es war tatsächlich an einem 1. August, an dem ich mich entschied, ernsthaft Politik zu machen. Und ich reflektiere das Wort Heimat.
Wenn ich Heimat sage, dann meine ich nichts Exklusives, nicht wir hier in Abgrenzung zu anderen dort. Ich meine das Gefühl, aus dem Postauto an der Station Savognin posta auszusteigen – angratzg fitg – und als erstes die seit Kindheit vertraute Bäckerei Casparin zu betreten, wo die Augustweggli aussehen, wie selber geformt und alles, einfach alles ein bisschen besser ist. Als überall. Ich meine den Weg über die Alp Promastgel auf den Motta Palousa und von dort über die Alp Ozur, Surava nach Tiefencastel. Dann meine ich das Wasser vom geschnitzten Brunnen, an dem der Zahn der Zeit nagt, wenn auch langsamer, viel langsamer als an mir. Ich meine die Aclas Surava, die Winter wie Sommer die Lichtung bewachen und deren rot-weisse Vorhängchen mit Spitzenbesatz im Winter den einzigen Rottupfer im Weiss ausmachen und mit dem schwarzen Holz irgendwie an Schneewittchen erinnern. Ich meine die Tankstelle in Tiefencastel, die nicht primär Tankstelle ist, sondern Treffpunkt. Man kennt sich, spricht sich mit Vornamen an, nimmt ein Panign, das immer frisch aus dem Aufbackofen kommt.
Jedes Jahr am 1. August bin ich da, lausche den Reden, in denen von Bergen, dem Erntejahr oder Naturereignissen gesprochen wird, ohne politische Statements zu platzieren, ohne die eigene (Wieder-)Wahl im Blick. Ich sitze auf Festbänken, zwischen Menschen aus dem Surses und Touristen, es ergibt sich stets ein Gespräch über dies und das, man erzählt von guten und schlechten Obstjahren, Hoteleröffnungen und -schliessungen und den neuesten Entwicklungen im Dorf.
Ich sitze dazwischen im Bewusstsein und mit dem nagenden Gefühl, ich müsste doch auch irgendwo stehen und eine Rede halten – es ist schliesslich Wahljahr. Müsste doch irgendwo meine politischen Ambitionen zum Besten geben, meine Verbundenheit zur Schweiz preisen und meine Motivation, das Leben hier für alle Menschen und anderen Lebewesen mit meiner Politik ein bisschen besser zu machen. Um im Anschluss anzustossen, und zu netzwerken – “ja, ich kandidiere wieder, ja,herzlichen Dank für Ihre Stimme, Ihr Vertrauen, herzlichen Dank, nein, zünden Sie ruhig Ihr Feuerwerk, wir sind doch keine Verbotspartei, natürlich, doch, das darf man heute auf jeden Fall noch sagen, was, eine halbe Stunde haben Sie einen Parkplatz gesucht – das ist ja wirklich kein Zustand!”
Und während ich so sitze und das Schuldgefühl stärker wird, dröhnt plötzlich der Klang von Alphörnern über den Platz und trifft genau in die Magengrube, wo sich mein nagendes Gefühl sogleich verflüchtigt, um der Vibration Platz zu machen. Ich sitze da neben allen anderen, die vom allumfassenden und wohlig durchdringenden Klang genau so ergriffen sind wie ich. Und niemand fragt, was ich arbeite, niemand fragt nach der Politik, ich bin einfach hier, lausche den Alphörnern, gehe mit auf den Lampionumzug und lasse die Meret, die das alles aus ironischer Distanz als kitschig, pathostriefend oder allzu romantisch nicht an sich heran lassen würde, im Flachland zurück. Und wünsche mir, dass alle Menschen irgendwo ein Stück Savognin-Gefühl in sich tragen, ein Stück Heimat, wo und was auch immer es sei.
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