Die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung ist mir ein Herzensanliegen – schon seit ich politisch aktiv bin. Jahrelang war ich intensiv bei Foodsharing aktiv und noch heute helfe ich, wenn es die Zeit zulässt, immer wieder mal mit, übrig gebliebenes Gemüse vom Markt, bald ablaufende Lebensmittel von Läden oder Reste von Gastrobetrieben zu retten und an Menschen zu verteilen, die sie brauchen können. Im Gegensatz zu Tischlein deck dich oder anderen NGO’s, die in diesem Bereich tätig sind, können bei Foodsharing in den entsprechenden Kühlschränken sämtliche Menschen Lebensmittel abholen, ohne ein geringes Einkommen ausweisen zu müssen.
Habe ich eine Fülle an Lebensmitteln gerettet, von denen ich fürchte, dass sie im entsprechenden Kühlschrank nicht schnell genug abgeholt werden, so starte ich einen Aufruf in den sozialen Medien und sämtliche interessierten Personen können sich an krummem Gemüse, Brot vom Vortag oder zu viel produziertem Raclettekäse bedienen.
Bei einer dieser Verteilaktionen hörte ich dabei ein Gespräch mit, das mich zum Nachdenken brachte und noch immer nach klingt. Die Rede war offensichtlich vom Gendertag in Stäfa und der unsäglichen Hetze, die auf Social Media diesbezüglich betrieben wurde – ich gehe an dieser Stelle nicht weiter darauf ein.
“Naja, ich finde das ja schon gut”, meinte eine Frau zu ihrer Begleiterin, “dass Jugendliche an unterschiedliche Geschlechterrollen herangeführt werden und dass man sich gegen Diskriminierung wehrt. Aber langsam habe ich das Gefühl, die Politik kümmert sich um alle Probleme ausser um die Unsrigen, ich mein, schau mal, wie viele hier wieder stehen.”
Damit wies sie auf die Schlange, die sich nach einem Aufruf vor dem Verteilbus des lokalen Foodwaste-Engagierten und Caterers “chabischäs.ch gebildet hatte. Auch bei chabischäs.ch können sämtliche Menschen gegen eine kleine Spende einen Sack mit Lebensmitteln füllen, die nicht mehr verkauft werden können, unabhängig ihres Einkommens. Aber auch wenn man hier nicht vorweisen muss, dass man finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, so ist doch klar: wer so lange für günstige Lebensmittel ansteht, sich darüber freut und sich überschwänglich bedankt, der oder die tut das nicht aus purem Vergnügen. Es sind Menschen, die mir auch immer wieder berührende Geschichten erzählen. Es sind Geschichten von neuen Fahrrädern für die Kinder, die man sich knapp an der Velobörse ersteigern konnte, von erfolglosen Wohnungssuchen aufgrund gestiegenen Mieten und Doppelbelastungen wegen Job und Familie, weil beide voll arbeiten müssen, um die Fixkosten zu decken.
Und bis zu einem gewissen Grad trifft die anstehende Dame einen wichtigen Punkt: natürlich hätte ich gern interveniert und gesagt, dass wir Grüne, die SP und alle sozial engagierten Kräfte im Parlament uns für bezahlbare Mieten, mehr Entlastungen für weniger gut Verdienende bei den Krankenkassenprämien und flächendeckende Kitabetreuungen einsetzen. Gern hätte ich ihr erzählt, wie wir uns für die Armutsbekämpfung in der Schweiz einsetzen, für Mindestlöhne, gegen Altersarmut und höhere Sozialleistungen – aber erstens wäre die ungefragte Einmischung in ein Gespräch absolut unadäquat und zweitens hat die Dame doch einen wesentlichen Punkt getroffen, banal, aber entlarvend für uns als Gesellschaft.
Denn tatsächlich setzen wir uns in den letzten Jahren vermehrt mit Diskriminierung auseinander und wehren uns dagegen – was auch wirklich Not tut! Wir gehen an Black Lives Matter-Demonstrationen, feiern mit der LGBTIQ+ -Gemeinschaft die Pride, marschieren an Umzügen für Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern und sitzen auf Podien für die politische Mitsprache von Geflüchteten. Hier ist es mir ein Herzensanliegen, nicht falsch verstanden zu werden oder in Whataboutism abzudriften: all diese Themen sind wichtig und richtig und verdienten eine noch viel grössere Plattform, als sie es aktuell haben.
Doch eine Dimension der sozialen Diskriminierung, die im Gegenteil nicht ab- sondern zunimmt, ist jene der finanziellen Armut. Und diese findet in der Öffentlichkeit schlicht nicht statt. Menschen, die sich dafür engagieren, bleiben tendenziell im Verborgenen. Bei Tischlein deck dich oder der Schweizer Tafel engagieren sich zahlreiche Freiwillige für die Menschen, die vor den Verteilzentren leicht beschämt anstehen um danach möglichst rasch wieder zu verschwinden. Wann sieht man Personen auf Podien, die Sozialleistungen beziehen und über die massive soziale Diskriminierung berichten, die eine finanzielle Notsituation mit sich bringt? Am Abend nicht mal eben auf ein Feierabendbier mitgehen können, den Kindern erklären, warum man nicht in die Skiferien fährt und trotz Job und Fleiss ist am Ende des Geldes einfach noch zu viel Monat übrig. Die sozialen Bewegungen, die sich gegen Diskriminierung wehren, tun dies häufig mit einer empowernden Parole, mit einer Parole des Feierns und der Freude: Wir feiern alle Geschlechteridentitäten, wir sind stolz auf alle Kulturen und freuen uns an der Vielfalt, “we are Black and we are Proud” – nur Armut, eine der wichtigsten Dimensionen sozialer Diskriminierung, fällt durchs Raster.
Armut lässt sich nicht feiern. Armut will unsichtbar gemacht werden – von jenen, die betroffen sind, aber noch viel mehr von jenen, die es nicht betrifft, die die Problematik elegant wegmoderieren mit Plattitüden wie: “in der Schweiz muss niemand hungern”, auch und insbesondere in der Politik. Sie hat recht, die Dame in der Schlange, die darauf hinweist, dass sich um dieses Problem einfach zu wenig gekümmert wird.
Es ist ja nicht so, dass Armut in der Schweiz in der Tendenz zurückginge – im Gegenteil. Im Bericht von Caritas war zu lesen, dass rund 745’000 Menschen in der Schweiz in Armut leben. Im Jahr 2021 lebten 134’000 Kinder in Armut. Fast ein Fünftel der Schweizer*innen konnte sich eine unerwartete Ausgabe von 2’500 Franken, wie zum Beispiel eine Zahnarztrechnung, nicht leisten. Von den Arbeitenden leben immer noch 157’000 Menschen in Armut. Ausserdem gelingt es offenbar nicht, die Armut zu verringern. Im Gegenteil, die Zahl der armen Menschen hat in den letzten Jahren immer mehr zugenommen.
Diese Zahlen machen mich betroffen und bestärken mich darin, mich künftig politisch der Thematik stärker anzunehmen – denn auch ich habe sie bisher zu stark vernachlässigt, wie ich beschämt eingestehen muss. Für die Leser*innen meiner Kolumne kann ich von Herzen das Buch “Am Rand, Geschichten von Menschen der Gesellschaft, von Getriebenen, Eigensinnigen, Abgehängten, Unsichtbaren” von Klaus Petrus empfehlen. Es eröffnet neue Perspektiven und einen feinsinnigeren Blick auf uns Menschen, auf Schicksale und uns selber und liess mich im positivsten Sinne erschüttert zurück. Wir brauchen wieder einen liebevolleren Blick auf Menschen, auch politisch, und das versuche ich nun verstärkt umzusetzen, so banal das klingen mag.
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