Es gibt Debatten, die derart hochkochen, dass sie überschäumen und man – um im Bild zu bleiben – erst den ganzen Herd putzen und die Pfanne wegstellen muss, um sehen zu können, was sich im Kochtopf befindet. Eine dieser Debatten war jene um die kulturelle Aneignung, eingeleitet gern mit einem empörten “Darf man denn nun noch…”, gefolgt von der maximalen Anzahl Ausrufe- und Fragezeichen, die in der Zeichenzahl auf Twitter gerade noch erlaubt war. Darf man noch Winnetou vorlesen, dürfen weisse Menschen Dreadlocks tragen, hat Elvis Presley sich in unlauterer Art und Weise der schwarzen Musik bedient und ist das zulässig?
Die Debatte drehte sich zunächst um solch legitime und diskussionswürdige Fragen, die in feuilletonistischen Kolumnen wortgewandt bis süffisant herabblickend auf eine “Generation Snowflake” erörtert wurden, erhöhte dann das Tempo und überdrehte, befeuert durch die Sozialen Medien, indem rhetorisch gefragt wurde, ob wir überhaupt noch Pizza essen dürfen in dieser sogenannt hypersensiblen Gesellschaft. Im Zuge dieser Überhitzung reizte es mich immer wieder, das Wort zu ergreifen, doch liess ich es stets, im Wissen, dass eine Differenziertheit im Prozess des Überschäumens ohnehin kaum Gehör finden würde.
Dennoch beschäftigt mich die Thematik noch immer, insbesondere weil daraus nicht nur in der Schweiz, sondern international politisches Kapital geschlagen wird und Urteile schnell gefällt sind angesichts der idiosynkratischen Reaktionen wie dem Abbruch eines Konzerts weisser Musiker mit Dreadlocks – was selbstverständlich absurd und der legitimen Diskussion nicht zuträglich war.
Interessant bei solchen Phänomenen ist es in meinen Augen immer, einen Blick auf den Ursprung der ganzen Diskussion zu werfen. Entzündet wurde die Debatte an dem Vorfall, dass der Ravensburger Verlag das Kinderbuch “Der junge Häuptling Winnetou” aus dem Sortiment nahm und Kritik am gleichlautenden Film laut wurde, dass dieser rassistische Klischees bediene und eine kolonialistische Erzählweise nutze.
Davon, die originalen Winnetou-Bücher zu canceln oder Karl May zu verbieten, war nie die Rede. Daraus entwickelte sich eine Debatte um kulturelle Aneignung, die in den USA schon seit Jahren existiert, im deutschsprachigen Raum jedoch bisher kaum in einer breiten Öffentlichkeit stattfand. Mit kultureller Aneignung ist gemeint, dass Menschen sich einer Kultur bedienen, die nicht ihre eigene ist, zum Beispiel durch Musik oder Bekleidung. Kritisiert wird vor allem, wenn Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sich einzelner Elemente der Kultur einer Minderheit bemächtigen, sie kommerzialisieren und aus dem Zusammenhang reissen. Wichtig ist hierbei der Aspekt der Kommerzialisierung und der Tatsache, dass beim Phänomen der kulturellen Aneignung eine privilegierte Schicht mit den Elementen einer anderen Kultur Profit erwirtschaftet. Grundsätzlich eine spannende Diskussion, die auch in den Bereich des geistigen Eigentums eingreift und interessant zu führen wäre – wenn man es denn täte.
Die Skandalisierung der kulturellen Aneignungen jedoch, die darauf folgte, weist eine Reihe von Absurditäten auf. Eine betrifft die Folgen, die sich ergeben, wenn man die geforderten Nutzungsbeschränkungen zu Ende denkt. Dann müssten bei jedem Gegenstand, jedem Stil, jeder Form kulturellen Ausdrucks die Urheber ausfindig gemacht und ihr Gebrauch auf diese Urheber beschränkt werden. Auch haben Menschen selbstverständlich stets Dinge von anderen übernommen, wenn sie diese für sinnvoll erachtet haben. Dazu kommt, dass Aneignung auch eine Wertschätzung beinhaltet, wenn man damit nicht auf Kosten der jeweiligen Kultur Profit daraus schlägt. All diese Aspekte hätten debattiert und in einer Öffentlichkeit stattfinden können, die sich bisher mit der Thematik kaum auseinandergesetzt hatte.
Was jedoch folgte, war ein Aufschrei nicht jener, die kulturelle Aneignung differenziert kritisierten, sondern einer Reihe von Rechtspopulist*innen, die in den teils überzogenen Reaktionen von Links selbstverständlich politisches Kapital witterten und sich diese Fehde nicht entgehen lassen wollten. Wenn man sich nämlich die Artikel, die darauf publiziert wurden und die Reaktionen auf eine Debatte, die eigentlich eine konstruktive hätte sein können, genauer ansieht, fällt auf: der Aufschrei oder der Ruf nach drastischen Konsequenzen kam mitnichten von jenen, die beispielsweise Winnetou-Filme kritisch sahen – im Gegenteil. Es wurden sich Kolumnen, Gastbeiträge und Feuilleton-Artikel um die Ohren geschlagen, in denen jegliche Kritik an kultureller Aneignung ad absurdum geführt und unter dem gern genutzten Begriff “Cancel Culture” der heutigen Gesellschaft eine Hypersensibilität unterstellt wurde.
“Was darf man heute überhaupt noch sagen?”, wurde skandiert – ohne dass von irgendeiner Seite je Sprechverbote oder Verbote von Büchern und Filmen gefordert wurden. Aus einer gefühlten Abgehängtheit heraus, die sich vermutlich aus dem Gefühl speist, die eigene Kindheit und Vergangenheit sei nichts mehr wert oder gar falsch (Winnetou, Zigeunerschnitzel, Schoggiköpfe…) wurde einer gar nicht vorhandenen Gegenseite attestiert, völlig überzureagieren und lächerliche Verbote zu fordern – ohne dass solche Forderungen je im Raum standen. Interessanterweise folgte darauf eine Initiative der SVP und Vorstösse im Parlament, die tatsächlich ein Verbot forderten – nämlich jenes des Gendersterns, aber das würde hier den Rahmen sprengen.
Der Punkt, den ich hier und in der ganzen Debatte machen möchte, ist die Aufforderung, genau hinzuschauen. Welche Forderungen standen tatsächlich im Raum? Und wenn auf eine schlichte Eröffnung einer Diskussion und der Fragestellung, mit welchen Inhalten wir Kindern wie kommentiert konfrontieren eine Sturzflut an “stellt euch nicht so an” und “was darf man denn noch”-Artikel folgt – auf wessen Seite ist dann die Hypersensibilität zu verorten? Im Zuge der ganzen Diskussion hätte ich mir definitiv mehr Differenziertheit und Debattierlust gewünscht – denn letztlich sind wir es, die die Regeln des kollektiven Umgangs miteinander aushandeln, wenn wir nicht nur Konsumierende, sondern auch Gestaltende unserer Gesellschaft sein wollen.
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