Ich bin ein konservativer Mensch. Ich mag Stabilität, Routinen und Traditionen, mag Beständigkeit lieber als Neuerungen, Gewohntes und Geliebtes lieber als unbekannte Abenteuer und begegne Innovationen mit dem Seufzer des Bilderbuch-Bünzlis, der sich bar jeder Begeisterung damit abfindet, dass damit offenbar alles schneller und einfacher vonstatten geht. Ich bin im besten Sinne konservativ und wenn ich das ausspreche, ernte ich zumeist ungläubige Blicke oder Lachen der Leute, die eine solche Aussage einer klar im linksgrünen Milieu zu verortenden Person als Scherz, vielleicht als Koketterie, interpretieren. Aber dem ist nicht so.
Wenn wir an Konservativismus denken, bauen sich zumeist Bilder von bürgerlichen Parteien beim Risottoplausch, Widerstand gegen vegane Würste oder vielleicht eines SVP-Exponenten im Edelweisshemd beim Eidgenössischen vor dem inneren Auge auf. Wir denken an restriktive Migrationspolitik, scharfzüngig ausgefochtene Kämpfe gegen alles, was nach Umweltpolitik und weniger Konsum klingt und ein Bewahren um des Bewahrens willen mit Instrumenten die – und das mag überraschen – exakt das Gegenteil zur Folge haben.
Viele Menschen sehnen sich derzeit nach Stabilität, nach Sicherheit und dem Gefühl, in ihrer eigenen Zukunft eine gestaltende Rolle zu spielen. Absolut verständlich angesichts der Weltlage, der fortschreitenden Globalisierung und der politischen Entwicklungen nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und China, die gleichermassen beunruhigen und in Anbetracht unserer geringen Einflussmöglichkeiten lähmend wirken können. Es herrscht eine um sich greifende Veränderungsmüdigkeit, Konsterniertheit und der Wunsch nach Komplexitätsreduktion – alles Bedürfnisse, die von der Partei, die in der Schweiz generell als die konservativste interpretiert wird, gezielt mittels scheinbar einfacher Lösungen und Stabilitätsversprechen befriedigt werden. Klopft man die Ziele und konkreten politischen Interventionen der SVP jedoch auf ihre tatsächlichen Konsequenzen ab, entpuppt sich die Partei nicht als eine des Konservativismus und des Bewahrenden, sondern als eine der Disruption.
Während beispielsweise zum einen die Bewahrung des Wohlstandes als Ziel gebetsmühlenartig wiederholt wird, lancieren sie im gleichen Atemzug die sogenannte “Nachhaltigkeitsinitiative”, die verlangt, die ständige Wohnbevölkerung in der Schweiz bis zum Jahr 2050 auf zehn Millionen Personen zu begrenzen. Wird diese Schwelle vorher überschritten, muss das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU gekündigt werden. Als Folge davon fällt das gesamte Paket der Bilateralen I mit der EU weg; also auch die Abkommen über Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft, Forschung, öffentliches Beschaffungswesen und Abbau technischer Handelshemmnisse. Denn gemäss der «Guillotine-Klausel» sind alle sieben Abkommen der Bilateralen I untrennbar miteinander verbunden. Wird eines der Abkommen gekündigt, fallen die anderen sechs automatisch auch weg. Eine Annahme der Initiative würde das Ende des bewährten bilateralen Wegs mit der EU mit sich bringen und hätte massiv negative Folgen für Wohlstand, Wirtschaft und Sicherheit in der Schweiz.
Allein diese Initiative würde Disruptionen im Bereich Arbeitsmarkt und wirtschaftlicher Stabilität mit sich bringen, die von wirtschaftlicher Prosperität und gesichtertem Wohlstand so weit entfernt sind wie der Mond. Bereits heute gehen in der Schweiz nämlich mehr Arbeitskräfte in Pension, als Junge ins Berufsleben eintreten. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren noch massiv verstärken. Dank der Personenfreizügigkeit mit der EU erhält die Schweiz auf unbürokratische Weise diejenigen Arbeitskräfte, die sie benötigt, wenn sie im Inland nicht genügend Personal findet. Ohne die dringend benötigten Arbeitskräfte drohen Firmenwegzüge, der Verlust von Steuereinnahmen, weniger Innovation, eine schlechtere Versorgung und ein abnehmendes Dienstleistungs- und Serviceniveau. Es sei hier angemerkt, dass dies selbstverständlich nicht meine Hauptgründe gegen die Initiative sind – die Missachtung des Völkerrechts, die absolute Negierung unserer humanitären Tradition und der menschenfeindliche Umgang mit Schutzsuchenden wiegen für mich wesentlich schwerer, doch illustriert die arbeitsmarktbezogene und wirtschaftliche Argumentation eindrücklich die Bereitschaft, die hochgelobte Stabilität auf dem Altar des Parteipopulismus zu opfern. Weitere konkrete Beispiele, die in der Umsetzung zu Destabilisierung und der Erosion unserer zentralen Werte führen, sind der Sparkurs in der Bildungspolitik in Anbetracht dessen, dass Bildung und Forschung quasi der Bodenschatz der Schweiz darstellt, das Sägen am Ast der öffentlich-rechtlichen Medien in einer Zeit, in der Fake News und Manipulation auf Social Media an Relevanz gewinnen oder die offen putinfreundliche Sicherheitspolitik, die es Russland ermöglichen, den Abnutzungskrieg mit ausreichend Ressourcen fortzuführen.
Aber auch in Bezug auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Kultur befindet sich die SVP derzeit nicht auf einem bewahrenden und vereinenden Weg, sondern auf einem der Disruption und der Spaltung. Wenn Marco Chiesa am 1. August, dem Feiertag, der den Zusammenhalt und die Vielfalt der Schweiz preist, in seiner Rede „Helfen Sie mit. Jagen Sie mit uns die schädliche Politik der Grünen und Linken in die Luft“, äussert, Albert Rösti Sympathien für Donald Trump bekundet, der in den USA gerade höchst effizient das Fundament der Demokratie abgräbt und die SVP nicht müde wird, den Graben zwischen Stadt- und Landbevölkerung zu vertiefen und für sich zu nutzen, dann hat dies keineswegs bewahrende und Stabilität stiftende Konsequenzen. Im Gegenteil sorgen solche kommunikativen Eskapaden viel mehr für Unmut, Unzufriedenheit und eine erodierende Bereitschaft, sich gegenseitig Zuzuhören und zu verständigen, wie es in Festreden gern als besonders “Schweizerische Eigenschaft” beschrieben wird.
Auch die absolute Negierung der Notwendigkeit, konkrete Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, ist kein politisches Verhalten, das zu mehr Stabilität und Sicherheit führt – im Gegenteil. Nichts wird unsere Zukunft so massiv prägen wie der fortschreitende Klimawandel und die damit verbundenen extremen Wetterereignisse, die Migrationsströme aufgrund der Unfruchtbarkeit ganzer Landstriche und ganz konkret der Anbaubedingungen in der Schweiz, wie es heute unsere Bäuerinnen und Bauern bereits zu spüren bekommen. Das Konservativste, mit dem man der aktuellen Situation begegnen könnte – politisch, gesellschaftlich und in Bezug auf die nationale Sicherheit, wäre das Aufzeigen von Lösungen, wie wir unseren Gestaltungsspielraum, der zugegebenermassen in Anbetracht der Globalisierung begrenzt ist, maximal positiv nutzen.
Das bedeutet eine respektvolle Kommunikation gegenüber Bevölkerungsgruppen und politischen Mitbewerbern, konkrete Massnahmen gegen den Klimawandel und die weitere Ausbeutung endlicher Ressourcen (Solaroffensive, regenerative Landwirtschaft, Investition in Forschung und Innovation), eine Offenheit gegenüber Zuwanderer*innen und Geflüchteten, die deren Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt ermöglicht und vor allem eines: Das Adressieren der Bürgerinnen und Bürger als Aktive Akteure in unserer Gesellschaft. Man mag an Merkel viel kritisieren, aber der Ausspruch einer zutiefst konservativen Politikerin: “Wir schaffen das”, ist genau die Botschaft, die eine Bevölkerung in einer Situation der multiplen Krisen und Unsicherheiten braucht. Nicht: “Wir lösen das Problem für euch”, nicht: «Mit uns wird alles, wie es nie war”, sondern: “Wir schaffen das – aber wir brauchen euch dazu.” Nur so schaffen wir es, Bewahrenswertes zu bewahren und dennoch einer Zukunft, die zwangsläufig Veränderungen mit sich bringt, offen und mit positivem Blick zu begegnen. Auch das ist für mich konservativ.
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