Zugegeben, über das Freihandelsabkommen der EU mit Mercosur schreibe ich nicht zum ersten Mal. Tatsächlich fühlt sich die Debatte an wie eine Netflix-Serie, die in drei Episoden auserzählt wäre, nun aber für eine 4. Staffel verlängert und um einen weiteren farblosen Charakter ergänzt wird, der zwar für mehr Starpräsenz, nicht aber für unerwartete Wendungen sorgt.
Immer wieder habe ich kritisiert, dass Freihandel mit Agrarprodukten insofern fatal ist, als die Produktionskosten in den Mercosur-Staaten massiv geringer sind und die Standards bezüglich Umwelt und Tierwohl der hiesigen Gesetzgebung weit hinterher hinken. Zur Folge hätte dies, dass bei Erhöhung der Kontingente für den Import von Agrarprodukten trotz höherer Zölle der inländische Markt mit beispielsweise brasilianischem Geflügel geflutet würde und sich die Bauern einem noch schärferen Preis- und Konkurrenzkampf ausgesetzt sähen als ohnehin schon. Umso unverständlicher ist aktuell die enge Zusammenarbeit des Schweizer Bauernverbandes im Wahlkampf mit den Wirtschaftsverbänden und der SVP, die eben in diesen Freihandelsabkommen ein rascheres Voranschreiten fordern, wie bei der Economiesuisse zu lesen ist. Dies ist umso brisanter, als die Verhandlungen der EU mit Mercosur aktuell eine Beschleunigung und beunruhigende, wenn auch nicht unerwartete Wendung genommen haben.
So ist der TAZ und zu entnehmen, dass Paraguay nun eine unverhandelbare und an Forderungen geknüpfte Frist gesetzt hat. Paraguays Präsident Santiago Peña erhöhte demnach den Druck, indem er ankündigte, die Verhandlungen über den Freihandelsvertrag zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union abzubrechen, wenn die Parteien nicht vor dem 6. Dezember zu einer Einigung kämen. Dann übernimmt Paraguay die Präsidentschaft der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft. Bis dahin habe der brasilianische Präsident Lula da Silva Zeit, der derzeit den Vorsitz innehat.
Der Mercosur besteht aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Durch das Abkommen mit der EU würde die grösste Freihandelszone der Welt mit 780 Millionen Menschen entstehen. „Wenn Lula nicht zum Abschluss kommt, werde ich die Gespräche im nächsten Halbjahr nicht fortsetzen“, sagte Peña in der TAZ. Er werde die Zeit stattdessen nutzen, um Handelsabkommen mit anderen Ländern anzustreben. „Ich bin sicher, dass wir sehr schnell ein Abkommen mit anderen Regionen erreichen werden“, so Peña.
Sowohl Lula als auch der EU-Botschafter in Paraguay, Javier García de Viedma, hatten erklärt, sie hielten ein Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur bis Ende 2023 für möglich. Der Druck, der nun von Seiten Mercosur aufgesetzt wird, ist jedoch nicht allein zeitlicher Art. Auch bezüglich Inhalt des Abkommens werden Forderungen gestellt, die den Bestrebungen nach Nachhaltigkeit und einer Verhinderung der zunehmenden Abholzung von Regenwald diametral zuwiderlaufen.
So hat der Mercosur erst Anfang September seinen lange angekündigten Gegenvorschlag zu den von der EU geforderten Zusatzvereinbarungen zu dem bereits ausgehandelten, aber noch nicht ratifizierten Abkommen vorgelegt. Darin geht der Mercosur, im Wissen um das immense Interesse der EU an einem Vertragsabschluss, auf Konfrontation: Das Dokument soll keine Sanktionen (oder auch nur Andeutungen von Sanktionen) enthalten, und die Vertragsparteien sollen vermeiden, dass Massnahmen zur Verwirklichung der nachhaltigen Entwicklung als ungerechtfertigte oder unnötige Handelshemmnisse eingesetzt werden.
Es soll einen „Mechanismus zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der im Rahmen des Assoziierungsabkommens ausgehandelten Handelszugeständnisse“ geben, der greift, „wenn diese Zugeständnisse infolge innerstaatlicher EU-Rechtsvorschriften ausgesetzt oder annulliert werden“. Konkret bedeutet dies Strafzölle auf Waren aus der EU in den Mercosur, wenn die EU den Zugang zu ihrem Markt durch neue Vorschriften erschwert.
Dieser Passus zielt direkt auf die EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten. Sie verbietet die Einfuhr und den Verkauf von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Rindfleisch, Kakao, Kaffee, Holz oder Sojabohnen, die auf nach dem 31. Dezember 2020 abgeholzten Waldflächen angebaut oder hergestellt wurden. Wenn die EU dem zustimmt, wäre ihre Verordnung ein zahnloser Papiertiger und Waren, die in die EU importiert werden, gelangen in einem zweiten Schritt auch in die Schweiz.
Ein Einlenken Paraguays ist momentan nicht zu erwarten. Das Land ist inzwischen der sechstgrösste Sojaproduzent und der viertgrösste Sojaexporteur der Welt und nein, dieses Soja wird nicht für den menschlichen Konsum oder die Tofuproduktion, sondern für die Nutztierhaltung angebaut. Den Erfolg als einer der grössten Sojaexporteure der Welt verdankt es der legalen und illegalen Abholzung, vor allem im Gran Chaco, dem zweitgrössten Waldökosystem Südamerikas nach dem Amazonas.
In Anbetracht dieses Druckes besteht nun die realistische Gefahr, dass Quoten für Agrarprodukte wie Geflügel oder Zucker erhöht werden, die nicht unter die EU-Abholzungsverordnung fallen. Dieser ‚Ausgleichsmechanismus für Handelskonzessionen‘ soll die Auswirkungen der EU-Verordnung über die entwaldungsfreie Lieferkette auf Rindfleisch- und Sojaexporte aus Argentinien und Brasilien ausgleichen. Das schier unendliche Ringen um nachhaltigere Agrarexporte könnte dadurch ein ebenso abruptes wie fatales Ende finden. Für die Bauern in der EU würde dies eine Überschwemmung des Marktes mit günstigem brasilianischem Poulet und Rind aus Uruguay bedeuten, wogegen auch wiederholt Stimmen erhoben und Protest laut wurde.
Ganz im Gegensatz zum Schweizer Bauernverband, der zur Zeit eng mit Wirtschaftsverbänden Kampagne macht. Einen Absatz zum Freihandelsabkommen mit Mercosur auf der Website der Economiesuisse, der uns und vor allem unseren Bauern zu denken geben sollte, möchte ich hier zitieren:
Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Zölle und Kontingente verzerren den Markt, denn sie verhindern Wettbewerb und führen zu Fehlanreizen. Unter anderem deshalb sind in der Schweiz die Lebensmittelpreise deutlich höher. Durchschnittlich liegen diese 50 Prozent über dem weltweiten Schnitt – der Schweizer Konsument bezahlt für Lebensmittel dadurch 600 Millionen Franken pro Jahr mehr, was pro Haushalt 162 Franken ausmacht. Beim Fleisch betragen die Zölle sogar 150 Prozent. Statt acht Franken kostet das argentinische Steak 20 Franken. Dadurch nimmt nicht nur der Konsument Schaden.
Was mit unseren Bauern passiert, wenn wir Steak für 8 Franken auf den Markt werfen, dürfte uns allen bewusst sein. Die Frage ist: sind sich dessen auch die Bauern bewusst, die an der Urne mit den Vertretern der Wirtschaftsverbände ihre sprichwörtlichen Henker selber wählen? Ich hoffe es und wünsche mir – noch immer – eine klare Abgrenzung des Bauernverbandes vom Freihandel mit Agrarprodukten mit Mercosur.
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