Meret Schneider: Für einmal Wutbürgerin

Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

“…da lupfts mir de Huet!” , hätte meine Mutter wohl gerufen und nur die Tatsache, dass ich mich in öffentlichen Verkehrsmitteln befand, hinderte mich daran, es ebenso zu tun. Dennoch, die Empörung und Fassungslosigkeit über den Artikel in der an sich geschätzten NZZ (ja, ich lese Zeitung auf langen Fahrten im Zug, gern auf Papier und ernte beim Kampf mit den großformatigen Seiten gefühlt mitleidige Blicke der Highperformer vis à vis, die beflissen in ihren Laptop tippen) hätte nicht grösser sein können und vermutlich hätte ein “da lupfts mir doch de Huet!” den Highperformer weniger irritiert, als die umständliche Zeitung. Dennoch, ich verzichtete und nun muss die Leserschaft herhalten.

Stein des Anstosses war ein Artikel in der gar nicht mehr so neuen Zürcher Zeitung mit dem Titel “Bauernproteste in Europa: «Faire Preise» zu fordern, ist unverschämt, wenn man schon Milliarden an Subventionen kassiert”. Der reisserischen Überschrift folgte ein marktliberaler Rundumschlag, der nicht nur von Missverständnissen, sondern schlicht auch von Fehlanalysen und falschen Prämissen durchsetzt war und den ich nicht so stehen lassen kann. Hauptkritik des Artikels war die Forderung der Bäuerinnen und Bauern nach fairer Preisbildung und damit nach kostendeckenden Produzentenpreisen, die eine Existenzsicherung ermöglichen. Dies sei, so wurde argumentiert, in einer Marktwirtschaft, die nicht zum Erstarren verdammt sein soll, nicht angemessen. “Wer ein Produkt herstellt, für das sich die Konsumenten nicht erwärmen können, muss aus dem Markt ausscheiden. Dadurch werden Arbeit und Kapital frei und können dort eingesetzt werden, wo es der Gesellschaft mehr bringt”, wurde postuliert. Soweit, so korrekt, wenn wir es auf Produkte wie eine neue Chipssorte mit Gurkengeschmack beziehen. Finden sich dafür nicht genügend Konsumierende, wird die Chipssorte vom Markt verschwinden – soweit, so sinnvoll.

Weiter wurde im Artikel argumentiert: “Weshalb sollte es bei handelbaren Produkten, zu denen auch die landwirtschaftlichen Güter zählen, ein Recht auf einen Preisaufschlag geben? Fiele er bei anderen Produkten ebenso hoch aus, würden die Konsumenten auf die Barrikaden steigen. Für Produzenten ist ein fairer Preis ein hoher Preis, für Konsumenten ist ein fairer Preis dagegen ein niedriger Preis, zumindest wenn man ihr Verhalten und nicht die Umfragen zum Massstab nimmt. Dieser Interessengegensatz wird in einer Marktwirtschaft durch den Wettbewerb gelöst.” Tatsächlich ist auch diese Argumentation marktwirtschaftlich gesehen korrekt, macht jedoch einen kapitalen Fehler in der Prämisse: Sie klassifiziert landwirtschaftliche Produkte als handelbare Güter und stellt sie damit quasi den Gurkenchips gleich. Dies ist aus mehreren Gründen falsch und würde bei konsequenter Durchführung zur Erosion unserer natürlichen Lebensgrundlagen und einem globalen “Race to the Bottom», was Nachhaltigkeitsstandards betrifft, führen.

Landwirtschaft erfüllt zum einen den Zweck, Nahrungsmittel zu produzieren und damit eine gewisse Unabhängigkeit zu gewährleisten, gleichzeitig jedoch auch den Boden und beispielsweise Berggebiete und den Alpenraum zu bewirtschaften. Beides sind öffentliche Güter, an deren Erhalt auch der Konsument, der im Regal im Zweifelsfall zum billigeren Importfleisch greift, interessiert ist – nur, dass er es sich in diesem Moment nicht bewusst ist. Dies ist ein Problem, das der Artikel berechtigterweise adressiert und an dessen Lösung mittels Sensibilisierung und Information intensiv gearbeitet werden muss.

Mit dieser Zusatzleistung, die die Landwirtschaft aber für die Gesellschaft und den Erhalt der natürlichen Ressourcen erbringt und die im Preis nicht internalisiert ist, werden auch landwirtschaftliche Erzeugnisse gewissermassen zu Gütern von öffentlichem Interesse. Im öffentlichen Interesse ist es beispielsweise, Hühner nicht in Käfighaltung zu halten, unser Trinkwasser nicht mit Pestiziden zu belasten und Tiere nicht mit genmanipulierte Soja zu füttern. Alles Interessen der Bürgerinnen und Bürger – der Konsumentinnen und Konsumenten – und alles Faktoren, welche die Produktionskosten in die Höhe treiben. Liesse man den Markt komplett spielen, würde auch in der Schweiz sehr viel günstiger, intensiver und auf Kosten der Tiere und der Umwelt produziert, da die Zahlungsbereitschaft für die Internalisierung dieser Kostenfaktoren offenbar zur Zeit nicht vorhanden ist. Dass wir damit am Existenzast sämtlicher kommender Generationen und unserer Gesundheit sägen, ist dem Kunden vor den antibiotikabelasteten Chicken Wings selbstverständlich nicht bewusst – er trifft damit keine voll informierte und damit rationale Entscheidung.

Als komplett Marktliberaler könnte man dies natürlich in Kauf nehmen und unsere Lebensgrundlage dem Wettbewerb überlassen – müsste dann aber diverse gesetzliche Regulierungen fallen lassen und beispielsweise das Tierschutzgesetz aus der Landwirtschaft streichen: für Tierwohl scheint es aktuell wenig Zahlungsbereitschaft zu geben. Der Widerspruch, den die Bauern zu Recht anprangern, ist ja genau diese Diskrepanz: politisch werden mehr Umweltleistungen, Tierwohl und Berücksichtigung der Trinkwasserqualität gefordert – und dies tut auch dringend Not – auf dem sogenannt freien Markt sieht man sich jedoch der Konkurrenz mit slowenischem Poulet aus Käfighaltung und hochintensiv produziertem Rindfleisch aus Argentinien ausgeliefert. Als Gesellschaft müssen wir uns also entscheiden: Gehen wir den Weg NZZ und lassen den Wettbewerb – und damit auch das Preisdumping – regulierungsfrei spielen, dann haben wir in kürzester Zeit eine Intensivproduktion, die auf Dauer die Böden komplett auslaugt und langfristig unser Überleben nicht sichert. Oder arbeiten wir an der Internalisierung der Umwelt- und Tierwohlleistungen, an der Zahlungsbereitschaft der Konsumierenden und sorgen dafür, dass Bauern für ihre Produkte und Zusatzleistungen fair entschädigt werden. Dabei müssen wir aber von den Bürgerinnen und Bürgern mit diversen Interessen – zu denen auch Wandern in den Alpen und weniger Antibiotikaresistenzen gehören – ausgehen und nicht nur vom theoretisch postulierten Konsumenten vor dem Regal.


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