Es ist kein Geheimnis: für transparentere Deklaration von Lebensmitteln bin ich grundsätzlich immer zu begeistern. Die freie Wahl der Konsumierenden soll meines Erachtens unbedingt bestehen bleiben, doch kann eine informierte und bewusste Konsumentscheidung selbstverständlich nur getroffen werden, wenn die relevanten Informationen über ein Produkt tatsächlich vorliegen.
Entsprechend habe ich mich in meiner Kommission stets dafür eingesetzt, in der Schweiz verbotene Produktionsmethoden zu deklarieren und insbesondere positive Aspekte wie Auslaufhaltung und besonders tierfreundliche Stallhaltung oder Bruderhahn-Eier speziell auszuweisen. Nur so wissen Konsumierende, warum es sich lohnt, für ein Schweizer Ei aus Bruderhahn-Haltung oder ein Säuli mit Auslauf etwas tiefer ins Portemonnaie zu greifen, als für ein Bodenhaltungsei aus dem Ausland oder ein sprichwörtlich armes Schwein, das am Tag seiner Schlachtung zum ersten Mal den Himmel erblickt.
Eine Entwicklung und eine Deklarationsmethode, die mir jedoch zunehmend Sorge bereitet und einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, ist jene des Nutri Scores. Seit November 2020 können Hersteller die fünfstufige Nutri-Score-Farbskala von A bis E auf ihren Produkten platzieren und Kundinnen so auf die Nährwerteigenschaften der entsprechenden Lebensmittel hinweisen. Verschiedene Produkte aus einer Lebensmittelgruppe lassen sich somit schnell und unkompliziert vergleichen, so zumindest das Versprechen.
Das Bewertungssystem erscheint auf den ersten Blick so bestechend wie simpel: Jeder Bestandteil eines Produkts wird mit gewichteten Punkten bewertet. Ein hoher Gehalt positiver Stoffe wie Ballaststoffe, Proteine, Obst und Gemüse kann damit negative Inhalte wie den Fettgehalt, Zucker oder Salz ausgleichen. Nicht bewertet werden unter anderem Vitamine, Mineralstoffe, ungesättigte Fettsäuren, Zusatzstoffe und Aromen. Die Einordnung bezieht sich auf 100 Gramm des Nahrungsmittels, unabhängig vom Gewicht in der Packung. So lassen sich besonders ähnliche, aus vielen Zutaten produzierte Lebensmittel von unterschiedlichen Herstellern gut vergleichen – aber immer nur innerhalb einer Kategorie. So weit so gut, so weit so unproblematisch – allerdings wirklich nur auf den ersten Blick.
Der Teufel liegt nämlich wie so oft im Detail. Zum einen sind Vergleiche nur innerhalb der Produktkategorie möglich, also Käse mit Käse, Fertiglasagne mit Fertiglasagne und nicht Toastbrot mit Apfelsaft oder Reis mit Walnüssen, was bereits teilweise zu Missverständnissen führt. Doch auch, wenn Konsumierende darüber im Bilde sind, führt die Annahme, sich an grünen A-Produkten zu orientieren, innerhalb der Produktpalette nicht zu einer gesünderen Auswahl an Lebensmitteln, da die Kriterien zu sehr irreführenden Bewertungen führen. Ein erstes Problem ist, dass der Verarbeitungsgrad, Zusatzstoffe, der Vitamingehalt und gesättigte vs. ungesättigte Fettsäuren keine Berücksichtigung finden. Dies führt dazu, das beispielsweise ein Vollfett-Käse schlechter abschneidet als ein mit Inulin und anderen Zusatz- und Füllstoffen versetzter Light Käse, obwohl das Vollfettprodukt mit einem viel höheren Vitamin A und D Gehalt zu Buche schlägt.
Auch ein hochindustriell hergestelltes Toastbrot, dem zusätzlich Nahrungsfasern beigemischt wurden, kann dadurch trotz hohem Zuckergehalt sehr gut abschneiden, da der höhere Ballaststoffgehalt die negativen Punkte beim Zuckergehalt kompensiert. Weitere Beispiele sind die ungünstige Bewertung von Walnüssen, die eigentlich sehr gesund sind, oder die konsequente Besserstellung fettarmer und dadurch stets stärker verarbeiteter Produkte wie Lightjoghurts, Proteindrinks etc. Letztlich bleibt zu konstatieren: Der Nutriscore führt bei den Konsumierenden primär zu einer Auswahl stark fett- und zuckerreduzierter, dafür aber oft ebenso stark verarbeiteter Lebensmittel, was nicht zwingend zu einer gesünderen Ernährung führt.
Neben diesen Fehlleitungen von Kundinnen und Kunden ist für mich jedoch die zentralere Problematik die Wirkung, die der Nutri Score auf dem Markt entfaltet und die Anreize, die er für die Industrie setzt. Neben der Tatsache, dass traditionelle Produkte mit geschützter Ursprungsbezeichnung wie Emmentaler AOP oder geschützte Slow Food-Produkte diskriminiert werden, da deren Zusammensetzung defintionsgemäss nicht geändert und somit nicht Nutri Score-kompatibel gemacht werden kann, ist auch der Effekt auf die Produktpalette im Supermarkt nicht begrüssenswert.
Interessant ist hierbei die Reaktion von Lebensmittelgiganten wie Nestlé, die dem Nutri Score – im Gegensatz zu vielen anderen Deklarationen wie Produktionsmethoden etc. – erstaunlich positiv gegenüberstehen und diesen auch bereits anwenden. So schreibt Nestlé : Wir von Nestlé Cerealien möchten einen Beitrag zu einer ausgewogeneren Ernährung unserer Konsumenten leisten. Daher ist uns gerade in Bezug auf den Gehalt an Vollkorn, Zucker, Energie, gesättigten Fettsäuren und Salz eine kontinuierliche Optimierung unserer Produkte wichtig. Mit der Umsetzung des Nutri-Scores starten wir genau deshalb mit sofortiger Wirkung! Seit 2020 haben wir alle unsere traditionellen Cerealien auf die neue Nährwertkennzeichnung umgestellt, um so mehr Transparenz für unsere Konsumenten gewährleisten zu können.
Was gut klingt, entpuppt sich jedoch als Mogelpackung. Ikonisches Beispiel dafür sind die Nesquik Schoko-Knusperfrühstück Cerealien, die mit der Höchstbewertung A ausgestattet sind. Dies trotz hohem Zuckergehalt, Glucosesirup und Palmöl in der Zutatenliste. Woher also die Bewertung A? Nestlé macht sich hier, wie viele andere Grossproduzenten, die den Nutri Score nutzen, die Schwäche der Berechnung zu Nutze: Durch Erhöhung des Vollkorn-Anteils und Hinzufügen von Vitaminen und Eisen dürfen die Schokoflocken als gesund ausgewiesen werden, da letztere Eigenschaften den hohen Zuckergehalt kompensieren. Ein Müsli aus Haferflocken, Äpfeln und Nüssen hingegen erhält durch den höheren Fettgehalt aufgrund der Nüsse nur eine Bewertung D. Welches Signal also senden wir an die Industrie mit der vermehrten Einführung und Auslobung des Nutri Scores auch durch Organisationen wie dem Konsumentenschutz?
In meinen Augen ein unerwünschtes, da Lebensmittelhersteller im Bemühen um ein gutes Rating die Rezepturen ihrer Produkte anpassen und aus Kostengründen zunehmend auf hochwertige Fette zu Gunsten von Füllstoffen bei Milchprodukten verzichten und stark Zuckerhaltige oder Weissmehlprodukte mit Nahrungsfasern versetzen, um deren Scoring zu verbessern. Im Endeffekt sehen wir uns nicht mit einer gesünderen und transparenteren Produktauswahl konfrontiert – oder zumindest nicht nur. Tatsächlich würde durch eine flächendeckende Einführung primär der Verarbeitungsgrad steigen und der Fettgehalt sinken, um möglichst nahe an eine A-Bewertung zu kommen, was kaum im Interesse von uns Konsumierenden sein kann. Im Sinne einer Stärkung unverarbeiteter, möglichst naturbelassener Lebensmittel möchte ich daher für eine kritischere Bewertung des Nutri Scores auch aus Konsumentensicht plädieren. Wenn ich wählen kann, nehme ich lieber den Alpkäse, als das Farb- und füllstoffversetzte Lightprodukt, lieber die Nussmischung als den High Protein Riegel und gern auch mal ein Nesquick-Schokomüesli – im Wissen, dass ich Letzteres nicht aus gesundheitlichen Gründen tue.
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