Meret Schneider: Von Konsumenten und Staatsbürgerinnen
„Ja aber der freie Konsument…“. Wammm. Einer Abrissbirne gleich donnert der freie Konsument in jedes noch so solide Argumentationsgebäude für ethische Standards bei Konsumgütern. Eine Deklarationspflicht für Produkte aus tierquälerischer Produktion? Wir wollen doch dem Konsumenten nicht vorschreiben, was er essen muss!
Wenn die Konsumierenden auf Poulet Lust haben, das in seinem Leben nie das Tageslicht sah, wenn sie ein Schwein essen möchten, das auf einem Quadratmeter Betonboden aufwuchs, wenn sie es wichtig finden, dass für ihr Schinkensandwich jährlich tausende Hektaren Regenwald gerodet werden, dann ist das doch deren gutes Recht! Ethisch verwerflich produzierte Produkte aus den Regalen zu verbannen, würde ja die Wahlfreiheit der Konsumierenden einschränken!
Das höchste Gut einer Gesellschaft ist nicht, wie Platon argumentierte, „das gute, gerechte Leben.“ Es ist die Wahlfreiheit des Konsumierenden. Und damit ist nicht Freiheit im liberalen Sinne gemeint: auch bei Adam Smith geht die eigene Freiheit nur so weit, wie sie nicht die Freiheit eines anderen einschränkt. Die Wahlfreiheit, mit der heute argumentiert wird, ist eine allumfassende, rücksichtslose. Würden alle Länder ihren Konsumierenden zugestehen, so viele Tierprodukte zu konsumieren, dass dafür auf einer Fläche von 250’000 Hektaren im Ausland Futtermittel angebaut werden müssen, hätten wir einige Planeten zu wenig.
Interessant ist hierbei, dass wir damit unsere Mitmenschen von Bürgern mit ethischen Einstellungen, Präferenzen und Verantwortungsbewusstsein zu reinen Konsumierenden degradieren, die einzig Konsumentscheidungen treffen.
Der sogenannt freie Konsument trifft einzig Entscheidungen seinen Konsum betreffend und wägt dabei rational zwischen verschiedenen Optionen Kosten und Nutzen ab. Aber selbst in der klassischen Wirtschaftslehre braucht es für einen freien Konsumenten Voraussetzungen; zum einen die vollständige Information über das Produkt, zum anderen eine Situation, in der rationale Entscheidungen möglich sind. Nicht einmal Smith würde heute von freien Konsumierenden sprechen: die wenigsten wissen, wie ihr Schweizer Poulet tatsächlich produziert wurde, dass es mit über 25’000 anderen in einer Halle ohne Tageslicht aufwuchs und nur 30 Tage zu leben hatte. Im Gegenteil: es herrscht sogar eine gezielte Fehlinformation, indem Millionen Steuergelder in die Bewerbung dieser Produkte investiert werden – selbstverständlich mit Hühnern auf der Wiese. In Anbetracht dieser Tatsachen haben wir also keinen freien, sondern eine gezielt fehlinformierten und durch das Angebot fehlgeleiteten Konsumierenden.
Es ist davon auszugehen, dass der Konsument vor dem Regal nicht so handelt, wie er das gerne würde. Dies zeigt sich deutlich in Studien, unter anderem einer repräsentativen Umfrage des Schweizer Tierschutzes, in der über 80% der Menschen angaben, ihnen sei Tierwohl bei den konsumierten Produkten sehr wichtig. Es zeigt sich auch, wenn wir die Konsumierenden als Bürgerinnen und Bürger fragen, ob sie es in Ordnung finden, wenn eine Minderheit der Menschen für das Leid aller anderen Menschen und zukünftiger Generationen verantwortlich ist. Sie finden es nicht in Ordnung. Ihnen ist eine tiergerechte Haltung wichtig, sie möchten nicht für die Ausbeutung des Planeten verantwortlich sein und ihren Enkeln nicht die Zukunft wegessen.
Als Gesellschaft müsste es in unserem Interesse sein, Bedingungen zu schaffen, die es den Bürgerinnen und Bürgern leicht machen, sich umweltfreundlich zu verhalten und damit das langfristige Bestehen der Gesellschaft zu sichern. Eine Möglichkeit wäre ein grösserer Anteil an pflanzlichen Produkten, ein anderer eine transparente Deklaration: woher stammen die Eier in meiner Fertiglasagne? Für echte Wahlfreiheit wichtige Informationen. Dies funktioniert aber nur, wenn wir die anonyme Masse der Konsumierenden wieder zu StaatsbürgerInnen aufwerten, die sich auch verantwortungsbewusst verhalten möchten. Das wäre wünschenswert. Sowohl für die Gesellschaft, als auch für ihre Mitglieder.
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One thought on “Meret Schneider: Von Konsumenten und Staatsbürgerinnen”
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Wirklich schade dass Sie auf Twitter gesperrt wurden, immerhin gibt es noch diese Kolumne :-).