Bern – In einer hitzigen Debatte hat der Nationalrat eine Auslegeordnung zur Europapolitik vorgenommen. Mit Anschuldigungen wurde nicht gespart. Der Verhandlungsabbruch wurde von fast allen Fraktionen bedauert. Nur die SVP sprach von einem Freudentag.
Wie weiter nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU? Erstmals nach dem Entscheid des Bundesrats hat der Nationalrat am Dienstag diskutiert, wie es in der Europapolitik weitergehen soll.
«Der Rauch ist langsam verzogen», sagte SP-Nationalrat Cédric Wermuth (ZH) und: «Diese Suppe haben viele Köche versalzen».
Es stünden nun folgende Schritte an, sagte Wermuth: Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde und die sozialpartnerschaftliche Annäherung an die EU. «Weiter sollten wir der EU anbieten, dass sich die Schweiz bei der Bewältigung der Covid-Krise, der Klimakrise und der Migrationskrise solidarisch beteiligt.»
Und schliesslich solle ernsthaft die Debatte um einen EU-Beitritt aufgenommen werden. «Es ist Zeit für mehr Zusammenarbeit und Solidarität in Europa und nicht Zeit für weniger Solidarität und Alleingang», schloss er.
GLP will weiter verhandeln
Die GLP-Fraktion will das Rahmenabkommen noch nicht beerdigen. Sie forderte den Bundesrat auf, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Roland Fischer (GLP/LU) erklärte, der Abbruch der Verhandlungen sei ein «Schock» für seine Fraktion. «Wir fordern den Bundesrat auf, die Verhandlungen um ein Rahmenabkommen wieder aufzunehmen und ein Abkommen zu unterzeichnen.»
«Der Bundesrat hat einen schweren Fehler gemacht, ohne einen Ersatzplan», ergänzte Jürg Grossen (GLP/BE). Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Schritte wie die Freigabe der Kohäsionsmilliarde, die autonome Rechtsübernahme und politische Dialoge seien kein Konzept für langfristig stabile Beziehungen zur EU. «Das ist eine Bankrotterklärung des Bundesrats», erklärt Grossen. Das Rahmenabkommen sei noch immer der Königsweg.
Status Quo ist keine Lösung
«Demokratie muss in einer sich stetig verändernden Welt mehr bieten als den Status Quo», sagte Balthasar Glättli (Grüne/ZH). «Der Bundesrat hat weder eine politische Vision, noch einen Plan B», meinte er. «Wir sind nicht zurück auf Feld eins, sondern auf Feld null.» Nun müssten die Lehren gezogen werden: «Wir müssen nun den Souveränitätsfetisch hinterfragen.»
«Der Status Quo steht nicht zur Auswahl», bilanzierte auch Elisabeth Schneider-Schneiter (Mitte/BL). Die Schweiz brauche einen politischen Dialog – mit der EU-Kommission und mit den Nachbarstaaten. Die Beziehungen zu den Nachbarn seien in den vergangenen Jahren zu wenig gepflegt worden. «Wir brauchen ein Konzept für diese Beziehungen», meinte sie.
«Es wird sich zeigen, wie ernsthaft es der SVP tatsächlich ist, den Bilateralen weiter zu gehen», sagte Schneider-Schneiter mit Blick auf die Kohäsionsmilliarde. Auch die Forderung nach einem EU-Beitritt, die die SP nun wieder stelle, helfe wenig, einen guten Weg zu finden, meinte sie.
Sternstunde der Eidgenossenschaft
Die SVP will die Kohäsionsmilliarde nicht sprechen, wie Roger Köppel (ZH) erklärte. «Der 26. Mai 2021 war ein Freudentag, eine Sternstunde der Schweizer Eidgenossenschaft», sagte Köppel.
Ausführlich dankte er allen, die nach seiner Auffassung den Abbruch der Verhandlungen befürworteten. «Wir danken dem Bundesrat, dass er die Kraft und den Mut gefunden hat, aus diesen Verhandlungen auszusteigen. Wir danken insbesondere den beiden FDP-Bundesräten Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter.» Sie hätten erkannt, dass das Rahmenabkommen kein gangbarer Weg sei.
Für die FDP-Fraktion hätten stabile Beziehungen zur EU einen hohen Wert, sagte Beat Walti (ZH). Ohne Grenzgänger und Personenfreizügigkeit wäre vieles in der Schweiz nicht möglich, sagte er. «Der Abbruch erfolgte im vollständigen Wissen um die negativen Konsequenzen für die einzelnen Departemente», sagte Walti. Er hoffe auf den Erfolg der politischen Gespräche.
Cassis will bilateralen Weg weiterführen
Am Ende der Debatte stellte Aussenminister Ignazio Cassis fest, dass der Entscheid von Ende Mai noch immer «die Gemüter erhitzt». Die Schweiz habe einen grossen Schritt auf die EU zugemacht, weil sie die dynamische Rechtsübernahme und den Europäischen Gerichtshof akzeptiert habe.
Die Sicherheit des Lohnschutzes mit den flankierenden Massnahmen und nur eine eingeschränkte Übernahme der Unionsbürgerlichtlinie seien die roten Linien gewesen, die innenpolitisch abgestützt gewesen seien, sagte Cassis
«Die Aufforderung des Bundespräsidenten, das Angebot der Schweiz nochmals vertieft zu prüfen, blieb ohne Antwort aus Brüssel», erklärte Cassis. Danach sei der Entscheid im Bundesrat getroffen worden.»Der Beschluss war eine Interessenabwägung.»
«Wenn du nur noch Grau vor dir siehst, bewege den Elefanten», zitierte Cassis ein indisches Sprichwort.
Es bleibe das Ziel des Bundesrats, den bilateralen Weg zu konsolidieren und auszuweiten. «Das Rahmenabkommen war ein möglicher weg, der nun gescheitert ist. Nun müssen wir andere Lösungen suchen.» (awp/mc/ps)