Bern – Die Schweiz gibt grünes Licht für den Fluglärmvertrag mit Deutschland. Nach dem Ständerat hat am Donnerstag auch der Nationalrat der Ratifikation zugestimmt. Beigelegt ist der Fluglärmstreit mit Deutschland damit aber nicht. Dort ist das Abkommen letzten November in der Schublade verschwunden, weil im betroffenen Bundesland Baden-Württemberg heftiger Widerstand dagegen laut geworden war. Deutschland verlangt Nachverhandlungen, was die Schweiz bisher abgelehnt hat.
Wie in dieser Situation mit dem Fluglärmvertrag zu verfahren sei, war nur einer der umstrittenen Punkte im Nationalrat. SP-Fraktionssprecher Hans-Jürg Fehr (SH) warnte davor, zuzustimmen: Damit bekräftige man in Deutschland das Gefühl, von der Schweiz über den Tisch gezogen worden zu sein. Kommissionssprecher Max Binder (SVP/ZH) hatte eine andere Leseart: «Damit ist die Tür für Nachverhandlungen zu», sagte er. Einen besseren Vertrag werde es für die Schweiz ohnehin nicht geben.
Gespaltene Fraktionen
Widerstand kam vor allem von Vertretern der betroffenen Kantone rund um den Flughafen, die mit den zusätzlichen Flugbewegungen fertig werden müssen. Obwohl die Fraktionen letztlich alles andere als geschlossen abstimmten, sprachen sich Grüne, SP und SVP gegen das Abkommen aus. Sie störten sich vor allem daran, dass der Fluglärmvertrag genehmigt werden sollte, bevor wichtige Fragen zur Lärmverteilung, zur Sicherheit und zum Anflugregime geklärt sind. «Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht zu wissen, was dieser Vertrag für sie bedeutet», sagte Natalie Rickli (SVP/ZH), die die Sistierung der Vorlage bis zur Klärung der wichtigsten Fragen verlangte.
SVP-Fraktionssprecher Alfred Heer (ZH) stellte das Abkommen grundsätzlich in Frage und verlangte eine neue Lösung, mit welcher die Nordausrichtung des Flughafens abgesichert würde. Es gebe mittlerweile ohnehin mehr Deutsche in der Schweiz, die vom Fluglärm betroffen seien, als in Deutschland selber, sagte er.
Die Befürworter und mit ihnen Verkehrsministerin Doris Leuthard betonten, dass es sich beim vorliegenden Vertrag um den bestmöglichen Kompromiss handle. «Der Vertrag hat den Vorteil, dass wir einen seit fast 20 Jahre dauernden Streit regeln können», sagte Leuthard.
Innenpolitisches Problem
Für Binder bringt das Abkommen dem Flughafen Zürich Rechts- und Planungssicherheit. Er warnte davor, dass bei einer Ablehnung eine einseitige Verordnung aus Deutschland drohe, was sicher nicht zu einem besseren Ergebnis für die Schweiz führen würde. Bei den offenen Fragen handle es sich um rein innenpolitische Probleme, die mit dem Vertrag mit Deutschland nichts zu tun hätten.
Der Nationalrat stimmte dem Abkommen schliesslich deutlich mit 110 zu 66 Stimmen bei 8 Enthaltungen zu. Anträge auf Sistierung oder Rückweisung des Geschäfts waren zuvor gescheitert.
Lange Geschichte
Es ist nicht der erste Fluglärmvertrag mit Deutschland, der dem Parlament vorliegt. 2002 lehnte der Nationalrat den Staatsvertrag ab, den der Bundesrat mit Deutschland ausgehandelt hatte. Trotz Nachverhandlungen versenkte der Ständerat das Abkommen 2003 endgültig. Inzwischen hat sich die Meinung durchgesetzt, dass sich die Schweiz damit keinen Gefallen getan hat.
Seither gilt nämlich die einseitige Verordnung Deutschlands, die dem Flughafen Zürich ein restriktives Anflugregime auferlegt. Nach jahrelangem Stillstand einigten sich die Schweiz und Deutschland 2012 auf eine Absichtserklärung, die in das vorliegende Fluglärmabkommen mündete.
Längere Ruhezeiten
Mit diesem garantiert die Schweiz Deutschland längere anflugfreie Zeiten. Das Abkommen sieht vor, dass Anflüge am Abend drei Stunden früher als heute über Schweizer Gebiet geführt werden, nämlich bereits ab 18 Uhr. Im Gegenzug verzichtet Deutschland auf eine zahlenmässige Begrenzung für Anflüge auf den Flughafen Zürich über deutsches Gebiet. Ausserhalb der Sperrzeiten kann sich die Zahl der Anflüge damit nach dem Verkehrsaufkommen entwickeln.
Zudem können Flugzeuge werktags eine halbe Stunde früher als heute Zürich über Süddeutschland anfliegen, nämlich bereits um 6.30 Uhr. Deutschland hat auch einen satellitengestützten gekrümmten Nordanflug akzeptiert, der ausschliesslich über Schweizer Gebiet führen würde. Ab 2020 müssen rund 25’000 bisher über den Norden geführte Flüge über eine andere Route zum Flughafen Zürich geleitet werden.
Kritik aus der Schweiz
Aus Baden-Württemberg und von Zürcher Fluglärmorganisationen hat es am Donnerstag Kritik an der Ratifizierung des Fluglärm-Staatsvertrags gegeben. In Baden-Württemberg wird auf Neuverhandlungen gesetzt, Flughafen-Gemeinden wollten erst Lärmverteilungsfragen geklärt haben.
Die Allianz Nord-Ost-West, der Gemeinden und Interessengemeinschaften um den Flughafen Zürich angehören, ist enttäuscht, dass der Nationalrat den Antrag auf Rückweisung abgelehnt hat. Das Parlament habe die Chance verpasst, zunächst noch die offenen Fragen zu Sicherheit, Lärmverteilung und SIL-Verfahren zu klären, heisst es in einem Communiqué.
Die Allianz zähle auf das Versprechen von Bundesrätin Doris Leuthard, dass ihr eine faire Lösung in der Frage der Fluglärmverteilung sehr wichtig sei und keine Kapazitätssteigerungen vorgesehen seien. Die Forderungen lauten: Die versprochene faire Fluglärmverteilung durchsetzen, die Pisten nicht verlängern und die betroffenen Städte und Gemeinden miteinbeziehen.
Für die Organisation «Flugschneise Süd – Nein» geht es nicht darum, wie Fluglärm verteilt wird, sondern wie er verringert oder vermieden werden kann. Der Staatsvertrag garantiere unbegrenztes Kapazitätswachstum für die Flughafen Zürich AG und den Lufthansa-Konzern auf Kosten der Bevölkerung, heisst es in der Mitteilung. Dem müsse Einhalt geboten werden.
Zufrieden zeigte sich «Pro Flughafen». Der Staatsvertrag mit Deutschland sei ein «schmerzhafter, aber akzeptabler Kompromiss». Dass die staatsvertraglichen Einschränkungen weit über innerdeutsche Standards hinausgingen, sei zwar stossend, das Abkommen könne aber die dringend notwendige Rechtssicherheit am Zürcher Flughafen wieder herstellen.
… und aus Deutschland
Der politische Vertreter der am stärksten vom Fluglärm betroffenen Region in Süddeutschland, der Waldshuter Landrat Tilman Bollacher, liess per Communiqué verlauten, er wolle die Entscheidung der Schweizer Politik nicht kommentieren. Da der Staatsvertrag aber in Deutschland keine Mehrheit finde, müssten beide Länder «an einer auch für Südbaden zufriedenstellenden Einigung» arbeiten.
Auch im Verkehrsministerium Baden-Württembergs sieht man gemäss Staatssekretärin Gisela Splett kaum noch «realistische Chancen», dass auf Basis des vorliegenden Staatsvertrags ein Einvernehmen erreicht werden kann. Die Staatssekretärin kritisierte den deutschen Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, dem sie Untätigkeit vorwirft.Wenn die Schweiz nun Fakten schaffe, müsse das auch die deutsche Bundesregierung tun, notfalls mit einer Verschärfung der geltenden deutschen Anflugbeschränkungen auf den Flughafen Zürich, sagte Splett gegenüber der deutschen Nachrichtenagentur dpa. (awp/mc/pg)