Nationalrat stimmt Personenfreizügigkeit mit Kroatien zu
Justizministerin Sommaruga verlässt nach Angriffen von Roger Köppel den Nationalratssaal. (© World Economic Forum/swiss-image.ch)
Bern – Der Nationalrat gibt grünes Licht für die Ratifikation des Kroatien-Protokolls. Bis zur Personenfreizügigkeit mit dem jüngsten EU-Mitglied ist es aber noch ein weiter Weg. Zuerst braucht es eine Einigung mit Brüssel über die Zuwanderungsfrage. Mehr zu reden als die Ratifizierung gaben die verbalen Angriffe des Zürcher SVP-Nationalrats Roger Köppel auf Justizministerin Simonetta Sommaruga.
Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014 verbietet die Verfassung neue völkerrechtliche Verträge, die der Schweiz keine Steuerung der Zuwanderung erlauben. Darum stritt der Nationalrat am Dienstag zunächst darüber, ob die Ermächtigung zur Ratifikation überhaupt verfassungsmässig sei. Die meisten Fraktionen waren davon überzeugt. Erst die Ratifikation selber würde gegen die Verfassung verstossen, falls es bis dahin keine Einigung mit der EU über die Begrenzung der Zuwanderung gebe, argumentierten ihre Sprecher.
Pragmatische Argumente
Das Protokoll könne darum erst ratifiziert werden, wenn eine mit dem Freizügigkeitsabkommen kompatible Lösung vorliege, erklärte Kommissionssprecherin Kathy Riklin (CVP/ZH). Eine solche suche der Bundesrat derzeit mit der EU-Kommission, sagte Martin Naef (SP/ZH). Es wäre darum «töricht», das Kroatien-Protokoll nicht zu unterzeichnen.
CVP-Sprecherin Elisabeth Schneider-Schneiter (BL) warf die Frage auf, ob es sich überhaupt um einen neuen völkerrechtlichen Vertrag handle oder lediglich um die Ausweitung eines bestehenden Vertrags. Wie andere Fraktionssprecher brachte sie aber in erster Linie pragmatische Argumente vor.
Den Status eines Drittstaates in der Forschungszusammenarbeit könne sich die Schweiz nicht leisten, sagte Schneider-Schneiter. Für die FDP steht die Fortsetzung des bilateralen Wegs im Vordergrund. Den Grünliberalen geht es um die Sicherung des Wohlstands, wie Tiana Moser (ZH) erklärte. Und Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli (ZH) erklärte: «Der Weg aus der Sackgasse führt über Kroatien.»
Köppel: «Frivole Leichtfertigkeit»
Die SVP sah dies selbstredend anders. Roger Köppel (ZH) griff Justizministerin Simonetta Sommaruga an und sprach von einer «frivolen Leichtfertigkeit», mit der sich der Bundesrat über die Verfassung hinwegsetze. Er habe vor wenigen Monaten selber erklärt, dass diese die Unterzeichnung des Kroatien-Protokolls nicht erlaube. Die «nebelhafte Eventualität» einer allfälligen Einigung mit der EU ändere nichts daran. Auch habe es Sommaruga «nicht so gern», wenn man die Dinge beim Namen nenne: «Sie reden lieber von Plangenehmigungsverfahren statt von Enteignungen, wenn Sie den Leuten die Häuser und die Wohnungen wegnehmen wollen», sagte Köppel mit Bezug auf die Asylgesetz-Revision.
Sommaruga reagierte auf die Angriffe des «Weltwoche»-Chefredaktors, indem sie den Saal verliess. Sie wollte sich später nicht dazu äussern, es war aber offensichtlich, dass sie nicht gewillt war, sich Köppels Votum länger anzutun. Mit ihr verliessen mehrere Mitte-Politiker und später die gesamte SP-Fraktion den Saal.
«Neue Ausgangslage»
Sommaruga hatte zuvor auf die Konsultationen mit der EU-Kommission verwiesen. Nach über einem Jahr Blockade sei damit eine neue Ausgangslage geschaffen worden. Noch gebe es keine Lösung, aber es gebe den politischen Willen, eine solche zu finden. Ob diese der Verfassung genüge «oder ob allenfalls der Verfassungstext angepasst werden muss, kann heute noch nicht gesagt werden», sagte Sommaruga.
Der Ansatz, über den derzeit diskutiert wird, sieht die Steuerung der Zuwanderung innerhalb der Mechanismen des Freizügigkeitsabkommens vor. Damit hat der Bundesrat in den Hinterzimmern der EU-Zentrale viel erreicht. Offizielle Verhandlungen hat Brüssel der Schweiz nämlich bisher konsequent verweigert. Ebenso konsequent pocht die EU auf die Gleichbehandlung ihrer Mitglieder.
Scharfe Reaktion aus Brüssel
Als der Bundesrat nach der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative erklärte, das Kroatien-Protokoll nicht unterzeichnen zu können, reagierte Brüssel daher prompt: Die Forschungszusammenarbeit im Rahmen von Horizon 2020, das Austauschprogramm Erasmus und das Media-Programm wurden auf Eis gelegt. Später gelang es dem Bundesrat, für die Schweiz eine provisorische Teilnahme auszuhandeln. In dem Übergangsabkommen wurde Horizon 2020 formell mit der Kroatien-Frage verknüpft: Wenn das Kroatien-Protokoll nicht bis am 9. Februar 2017 ratifiziert ist, endet die Forschungszusammenarbeit endgültig.
Falls die Ratifikation zu Stande kommt, ist die Schweiz voll assoziiertes Mitglied von Horizon 2020. Ratifiziert werden kann das Protokoll nur dann, wenn bis dahin eine Einigung mit der EU über die Begrenzung der Zuwanderung zu Stande gekommen ist.
Lange Übergangsfrist
Kroatien ist seit Juli 2013 EU-Mitglied. Brüssel hatte die Schweiz schon 2012 ersucht, die Personenfreizügigkeit, die für alle anderen EU-Länder gilt, auf Kroatien auszudehnen. Eine Einigung kam rasch zu Stande, die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative verzögerte die Unterzeichnung jedoch um fast drei Jahre.
Erst Anfang März 2016 beurteilte der Bundesrat eine Lösung im Zuwanderungsstreit als wahrscheinlich genug, um seine Unterschrift unter das Protokoll zu setzen. Dieses sieht eine schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit vor. Die Schweiz kann den freien Personenverkehr noch während zehn Jahren einschränken. Der Nationalrat stimmte dieser Regelung mit 122 zu 64 Stimmen zu. Die Vorlage geht nun an den Ständerat.