Ökosystem Sicherheitspolitik

Dr. Fritz Kälin

Der Militärhistoriker und Experte für Sicherheitspolitik, Dr. Fritz Kälin, schreibt für Moneycab neu über sicherheitspolitische Entwicklungen, die für die Schweiz von Bedeutung sind. Heute mit einem Vergleich zwischen einem gesunden Wald und einem gesunden Staatssystem.

Von Dr. Fritz Kälin

Jeder Baum bezieht über sein Wurzelwerk Nährstoffe und Wasser. Den für Wachstum und Stoffwechsel notwendigen Zucker gewinnt er über sein Blattwerk mittels Photosynthese. Der Stamm bildet den Mittelbau.

Je enger Bäume beieinanderstehen, desto länger und schlanker wachsen sie im Wettlauf ums Sonnenlicht in die Höhe. Ein gesunder Wald zeichnet sich durch eine bunte Mischung verschiedener Baumarten aus. Durch ihre unterschiedlichen Höhen und Wuchsformen nutzen sie das Angebot an Wasser, Nährstoffen und Licht optimal.

Grosser ökonomischer Nutzen, aber geringe Widerstandskraft
Ein Nutzwald für die Holzwirtschaft weist dagegen weniger Artenvielfalt auf. Das erleichtert seine wirtschaftliche Nutzung. Bei Stürmen widerstehen die Waldflächen aber nur bis zu einer gewissen Windstärke. Auch Schädlinge vermehren sich in Nutzwäldern viel schneller. Man könnte sagen: Ein nur nach kurzfristigen ökonomischen Kriterien bewirtschafteter Wald ist kein wirklich überlebensfähiges Ökosystem.

Warum wird diese sicherheitspolitische Kolumne mit einem grünen Daumen eröffnet? Nun, stellen wir uns die Nationalstaaten Europas einmal als Bäume vor. Das innenpolitische Leben jeder Nation stellt ein ständiges Ringen zwischen konservativen, liberalen und sozialistischen Weltanschauungen dar, meist vertreten durch das Parteienspektrum Rechts, Mitte und Links. In der Politik muss «der Wähler» den optimalen Ausgleich herstellen, was beim Baum «die Natur» im Wachstum von Wurzeln, Stamm und Blattwerk regelt.

Greifen wir auf eine weitere Trias zurück. Nach dem französischen General und Strategie-Theoretiker André Beaufre (1902–1975) verfolgen alle Staaten drei Ziele: Unabhängigkeit, Wohlstand und Einflussnahme auf andere Staaten. Die Staatskunst muss die Gewichtung dieser Ziele langfristig in Einklang halten mit den vorhandenen Ressourcen und der erwartbaren Veränderung der Umwelt.

Die Unabhängigkeit können wir dem Wurzelwerk gleichsetzen. Gewahrt wird sie über die staatlichen Institutionen (z.B. Diplomatie, Armee, Polizei, Rechtsstaat). Die wirtschaftliche Wohlfahrt strebt gleich dem Blattwerk in die Höhe und sorgt für das notwendige Wachstum. Je höher der Stamm, desto besser überragt das Blattwerk des Baums dasjenige der Konkurrenz. Setzen wir den Stamm also mit dem Einfluss eines Nationalstaates über andere gleich.

«The winner takes it all»
Überragt ein Baum die anderen deutlich an Höhe, auf Kosten der Stammdicke und Dichte des Wurzelwerks, vermag er an sonnigen Tagen mehr Licht abzubekommen als die Konkurrenz. Stürmen gegenüber ist er dafür stärker exponiert und weniger widerstandsfähig.

Im befriedet wirkenden Europa priorisieren manche StaatenlenkerInnen einseitig das Wachstum der eigenen Wirtschaft. Europaweiter «Braindrain» über die Personenfreizügigkeit wird zum Dogma erhoben. «The winner takes it all.» Die Verlierer werden mit «solidarischen» Hilfen entschädigt – und diszipliniert. Ausgaben für Sicherheit, Gesundheit und soziale Wohlfahrt gelten als Wohlstandsbremsen. Und was noch in die Verteidigung investiert wird, erfolgt nach immer einheitlicheren NATO- und EU-Vorgaben, bei gleichzeitiger strategischer Desorientierung, welches denn die für alle grösste gemeinsame Bedrohung ist. Wehe, wenn ein Sturm aus einer falschen Richtung heranzieht…

Wachstum und Unabhängigkeit
Die schweizerische Bundesverfassung sorgt seit dem 19. Jahrhundert dafür, dass unser Kleinstaat wirtschaftlich langsam, aber stetig gedeiht, und sich für seine geringe Grösse dennoch ein beachtliches Mass an Unabhängigkeit bewahrt. Das direktdemokratische Holz, aus dem diese Nation geschnitzt ist, erwies sich als zu gesund für die Schädlinge, die in Gestalt extremer Ideologien anderen Nationen so schlimm zugesetzt haben. Und durch diese innere Ausgeglichenheit, mit einem starken Wurzelwerk und der bescheidenen Stammhöhe, überstand der Eidgenössische Baum auch die bislang schwersten Kriegsstürme, die je über den Kontinent hinwegfegten.

Seit einem Jahr wütet ein besonders heimtückischer «Käfer» in allen Wäldern der Welt. Der nächste Sturm wird darüber richten, welche Bäume in den letzten Jahrzehnten wirklich nachhaltig gewachsen sind.


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