Bern – Für die Schweizer Wirtschaft bleibt die Personenfreizügigkeit angesichts des Fachkräftemangels entscheidend. Und für Personen aus der EU bleibt die Schweiz attraktiv. So lautet das Fazit des 20. Berichts zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf Arbeitsmarkt und Sozialleistungen.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) stellten die Ergebnisse des Berichts am Montag an einer gemeinsamen Medienkonferenz in Bern vor.
Insgesamt wanderten 2023 demnach im Rahmen der Personenfreizügigkeit rund 68’000 Menschen mehr in die Schweiz ein, als das Land verliessen. Dies ist der zweithöchste Wert seit Inkrafttreten des Abkommens.
Hohe Nachfrage nach Arbeitskräften
Höher sei die Freizügigkeitszuwanderung aus dem EU-Raum und den Efta-Staaten lediglich 2008 gewesen, heisst es im Bericht. Die Nachfrage des Schweizer Arbeitsmarktes nach Arbeitskräften aus dem EU-Raum sei nach wie vor hoch und es gelinge gut, den Bedarf zu decken.
Die grösste Gruppe der Zugewanderten machten die Deutschen mit einem Anteil von 21 Prozent aus. Dahinter folgen in der Rangliste der Herkunftsländer Frankreich und Italien mit Anteilen von 16 respektive 15 Prozent.
Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit im Seco, nannte namentlich die tiefe Arbeitslosigkeit und das Wachstum der Beschäftigung als Gründe der Entwicklung. Er verwies zudem auf die demographische Entwicklung.
Alterung der Gesellschaft
Die einheimische Bevölkerung im Erwerbsalter sei in den letzten knapp 20 Jahren nur noch schwach gewachsen. Seit zwei Jahren nehme die einheimische Erwerbsbevölkerung sogar ab. Der Ausbau der Erwerbstätigkeit habe dagegen in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich über dem EU-Durchschnitt gelegen, so Zürcher.
Die Personenfreizügigkeit diene damit der Deckung der Nachfrage nach Arbeitskräften, argumentieren auch die Autoren des Berichts. Dies gelte sowohl für Hochqualifizierte als auch für das Gastgewerbe, den Bau oder die Industrie.
Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Beschäftigungswachstum zeige sich auch in Österreich, den Niederlanden, Belgien oder Norwegen. In der Schweiz sei er aber besonders stark, da diese das einheimische Potential an Arbeitskräften bereits besser ausschöpfe.
«Bedarfsgerechte Zuwanderung»
Wichtig sei dabei, dass heute mehr Frauen Erwerbsarbeit leisteten als vor 20 Jahren, so Zürcher. Die Erwerbsquote in der Schweiz sei im europäischen Vergleich schon heute hoch. Daher sei das Land angesichts der Alterung der Gesellschaft besonders stark auf Zuwanderung angewiesen. «Freizügigkeitszuwanderung ist bedarfsgerechte Zuwanderung.»
Die Schweiz habe dank der Personenfreizügigkeit weit über ihrem demographischen Potential wachsen können, sagte Helene Budliger Artieda, Staatssekretärin im Seco.
Bereits im Februar hatte das Bundesamt für Statistik (BFS) bekannt gegeben, dass die Nettozuwanderung insgesamt im Jahr 2023 auf knapp 100’000 Personen gestiegen war.
Budliger Artieda sagte, dass diese Entwicklung wieder vermehrt zu Diskussionen um eine Begrenzung der Zuwanderung geführt habe. Mit Verweis auf Grossbritannien erklärte sie, dass das Ende der Personenfreizügigkeit nach dem Brexit nicht dazu geführt habe, dass die Zuwanderung insgesamt gesunken sei.
«Pfeiler des Wohlstands»
Roland Müller, Direktor des Arbeitgeberverbands, unterstrich die hohen Kosten für Unternehmen durch Engpässe an Arbeitskräften. «Die Analyse zeigt zum wiederholten Mal, dass die EU/Efta-Zuwanderung ein wichtiger Pfeiler des Wohlstands in der Schweiz ist.» Müller warnte in diesem Zusammenhang vor einer Annahme der sogenannten Nachhaltigkeitsinitiative der SVP.
Punktesysteme wie etwa in Kanada oder Kontingentssysteme seien nicht besser als die Personenfreizügigkeit mit flankierenden Massnahmen, sagte auch SGB-Chefökonom Daniel Lampart.
Der Bericht untersuchte auch die Auswirkungen der Zuwanderung auf die Sozialwerke. Zu AHV und IV trügen Zugewanderte aus dem EU/Efta-Raum mehr bei, als sie an Leistungen bezögen, so die Autoren. Hingegen bezögen Zugewanderte insgesamt mehr Arbeitslosenentschädigung, als sie in die Arbeitslosenversicherung einzahlten. Der Grund dafür sei unter anderem, dass Zugewanderte durchschnittlich häufiger als Einheimische in Saisonstellen arbeiteten. (awp/mc/pg)