Polarisierte Parteien, gespaltenes Land?

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Denise Traber forscht unter anderem zur Konkurrenz von Parteien und zum Vertrauen in die Politik. (Foto: Universität Basel)

Interview: Urs Hafner, Universität Basel

Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren, ist wichtig für Parteien. Bedeutsamer für den Ausgang von Wahlen sei aber die Themenkonjunktur, sagt Politikwissenschaftlerin Denise Traber.

UNI NOVA: Frau Traber, im Herbst stehen die eidgenössischen Wahlen an. Wagen Sie eine Prognose, welche Partei gewinnt und welche verliert?

DENISE TRABER: Nein, Prognosen scheitern meist. Aber ich mache eine Ausnahme (lacht)Wenn wir die Zürcher Wahlen vom Februar zum Gradmesser nehmen, sind keine grossen Veränderungen zu erwarten. Es kommt halt drauf an, was bis im Spätsommer noch geschieht und welche Themen plötzlich im Vordergrund stehen. Die grosse Frage ist, was mit den Grünen passiert.

Gewinnt nicht die Partei, die den besten Wahlkampf macht und ihre Leute mobilisiert?

Natürlich ist die Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler wichtig, die Themenkonjunktur ist jedoch bedeutsamer für den Ausgang von Wahlen. Die Parteien müssen sich entscheiden, ob und wie sie auf die Themen setzen, die in der medialen Öffentlichkeit dominieren. Gegen ein vorherrschendes Thema anzukämpfen oder dieses umdeuten zu wollen, ist in der Regel wenig erfolgversprechend.

«Die mediale Dominanz der Themen ist für die Parteien umso wichtiger geworden, da heute die meisten Medien über das Gleiche berichten.»

Prof. Dr. Denise Traber

Die grossen Sieger der letzten Wahlen vor vier Jahren waren die Grünen.

Ja, die Grünen profitierten von der Konjunktur des Umweltthemas, das von der Klimabewegung, den Fridays-for-Future-Demonstrationen und natürlich den Medien in den Vordergrund gerückt wurde. Die Grünen gewannen die Wahlen, obschon die SP bei der Umweltpolitik die gleichen Positionen vertritt. Die Wählerinnen und Wähler verbinden die meisten Themen mit einer Partei. Die Umwelt gehört den Grünen, teils auch den Grünliberalen.

Denise Traber
ist seit 2020 Assistenzprofessorin für Politische Soziologie am Departement für Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel. Zuvor arbeitete sie an den Universitäten Luzern, Zürich und Genf sowie an der London School of Economics and Political Science. Ihr Forschungsgebiet ist die Konkurrenz der Parteien und das politische Verhalten in Phasen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen. Aktuell untersucht Traber die politischen Folgen der wirtschaftlichen Ungleichheit in Europa.

Die Klimaerwärmung ist seit den letzten Wahlen noch akuter geworden, niemand bestreitet sie mehr.

Ja, aber die Klimaerwärmung ist nicht mehr das dominante Thema. Sie ist plötzlich und massiv vom Asylthema verdrängt worden. Dieses kam im Kanton Aargau auf mit der Diskussion um Wohnraum für Geflüchtete. Die – später korrigierte – Behauptung, dass die Regierung Zwangskündigungen vorgenommen habe, hat grosse Empörung hervorgerufen. Das Thema hat Potenzial, weil man damit die Zuwanderung, die hohen Mietpreise und das Bevölkerungswachstum verbinden kann. Die mediale Dominanz der Themen ist für die Parteien umso wichtiger geworden, da heute die meisten Medien über das Gleiche berichten.

Es sieht also zurzeit gut aus für die Rechte. Die SVP verkündete Anfang Jahr, den «Woke-Wahnsinn» auf allen Ebenen bekämpfen zu wollen. Gemeint ist die dezidierte Berücksichtigung aller möglichen sexuellen Identitäten, die sich im Sprachgebrauch niederschlagen soll, Stichwort Genderstern. Wird das Thema noch im Wahlkampf auftauchen?

Wie gesagtNiemand weiss, was noch geschieht, Prognosen scheitern meist. So oder so scheint mir aber das Thema wenig ergiebig für einen Wahlkampf zu sein. Die Menge der Leute, die sich für «Wokeness» interessieren, ist überschaubar, zudem ist die Debatte aus den USA importiert. Das Thema eignet sich höchstens, um die Identität im eigenen Lager zu stärken und kurzfristig Stimmung gegen die Wählerinnen und Wähler des Gegners zu machen. Die Politikwissenschaft nennt das «affektive Polarisierung».

«Die Schweiz ist eine Vorreiterin. Unsere Nachbarländer machen die Veränderungen durch, die hierzulande schon in den 1990er-Jahren eingesetzt haben.»

Das in den letzten drei Jahren dominante Thema Corona-Pandemie ist plötzlich verschwunden.

Die Parteien und die Regierung wurden vom Thema überrumpelt, sie konnten nicht auf bestehende Rezepte zurückgreifen. Nach anfänglicher Konfusion führten die politischen Eliten die altbekannte Diskussion um Einfluss des Staates versus Freiheit der Wirtschaft. Gleichzeitig formierte sich eine Bewegung gegen die staatliche Einschränkung der individuellen Freiheit, die nicht in das klassische Links-rechts-Schema passte. Hätten wir während der Pandemie Wahlen gehabt, hätten sich diese Themen vermutlich stärker ausgewirkt.

In unseren Nachbarländern sind in den letzten Jahren etablierte Parteien erdrutschartig verschwunden und neue Kräfte entstanden. Das helvetische Parteienspektrum dagegen ist vergleichsweise stabil geblieben. Ist die Schweiz ein Sonderfall?

Die Schweiz ist eine Vorreiterin. Unsere Nachbarländer machen die Veränderungen durch, die hierzulande schon in den 1990er-Jahren eingesetzt haben. Damals begann die Polarisierung des Parteiensystems mit den beiden grössten Parteien, der SVP auf der rechten und der SP auf der linken Seite, wobei beide im europäischen Vergleich radikale Positionen vertreten. Die SVP orientierte sich neu und nahm Themen auf, die sie noch heute bewirtschaftetdie Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union, die Migration und das Asylwesen. Die SVP wurde sozusagen zum Vorbild der neuen rechtspopulistischen Parteien in Europa, während die SP im Vergleich zu den sozialdemokratischen Parteien anderer Länder ihre klare linke Positionierung beibehalten hat. Seither sind in der Mitte des politischen Spektrums neue Parteien entstanden, das linke und das rechte Lager bleiben aber insgesamt stabil.

«Man kämpft hart gegeneinander, es dauert lange, bis die Entscheide gefallen und die Ergebnisse durchgesetzt sind, aber dann werden sie breit akzeptiert, auch von den Unterlegenen.»

Würden Sie dann nicht lieber zum Beispiel zu Italien forschen, wo politisch permanent die Post abgeht? Wäre das nicht spannender?

Wir haben hier weniger Drama, in der Tat (lacht). Dafür haben wir mehr Stabilität als die Nachbarländer, und die hat auch ihren Reiz. Zuletzt hat das Vertrauen der Wahlbevölkerung in das politische System sogar leicht zugenommen. Die Leute schätzen die Konkordanz und die direkte Demokratie. Man kämpft hart gegeneinander, es dauert lange, bis die Entscheide gefallen und die Ergebnisse durchgesetzt sind, aber dann werden sie breit akzeptiert, auch von den Unterlegenen.

Die Kontraste in der Politik sind riesigHier die linke Politikerin, die von einer Vielzahl von Geschlechtern ausgeht und die Banken verstaatlichen will, dort der rechte Politiker, der noch mehr Sozialabbau verlangt und dessen weibliches Idealbild die Hausfrau ist. Politkommentatoren sprechen von einem Riss, der durch unser Land gehe. Wie sehen Sie das?

Wir haben polarisierte Parteien, aber kein gespaltenes Land. Die politischen Einstellungen der Leute, die an die Urne gehen, sind seit Jahrzehnten stabil, wobei etwa bei der Frage der Gleichstellung eine leichte Verschiebung nach links festzustellen ist. Die Wählerinnen und Wähler auf der rechten Seite wollen unter anderem weniger Einwanderung, die auf der linken Seite eine offene Schweiz. Daran hat sich seit den 1990er-Jahren wenig geändert, auch wenn die Medien berichten, das Land drifte auseinander.

Wieso sind die Einstellungen der Wähler und Wählerinnen so stabil?

Die Menschen bilden ihre politische Haltung zwischen Kindheit und jungem Erwachsenenalter aus. Oft übernehmen sie die Ansichten ihrer Eltern. Diese Ansichten ändern sie im Lauf ihres Lebens kaum mehr, am ehesten noch, wenn jemand das Milieu wechselt. Es gibt Hinweise darauf, dass externe Ereignisse, zum Beispiel eine Finanzkrise, die Einstellungen beeinflussen können. Diese Veränderungen sind aber meist nur vorübergehend.

Werden sich die Parteien der Mitte auf Dauer halten können?

Sie verlieren in der Tat konstant an Wähleranteilen, mit Ausnahme der Grünliberalen. Die Mitteparteien haben es im Wahlkampf schwerer als die Polparteien, da sie nicht so dezidiert Position beziehen können. Dafür aber gewinnen sie im Parlament die meisten Abstimmungen. Dort sind sie sehr erfolgreich, die Öffentlichkeit realisiert das aber nicht immer. Die Mitteparteien werden nicht verschwinden.

«Knapp neun Prozent der Bevölkerung sind von Armut betroffen, knapp über 15 Prozent armutsgefährdet, Tendenz leicht steigend. Diese Leute sitzen nicht im Parlament.»

Die Basis der Linken waren lange die Arbeiterinnen und Arbeiter. An ihre Stelle sind Migranten im Tieflohnbereich getreten, die keine politischen Rechte besitzen. Was würde sich politisch ändern, wenn sie wählen gehen dürften?

Ja, die SP hat seit den 1980er-Jahren eine neue Basis erhaltenDie gut gebildete Mittelschicht. Das heisst aber nicht, dass die traditionelle Arbeiterschicht zu anderen Parteien abgewandert ist. Diese Gruppe ist einfach stark geschrumpft, während eine Bildungsexpansion stattgefunden hat, auch in anderen europäischen Ländern. Was sich mit der Ausdehnung des Stimmrechts ändern würde, ist schwierig zu sagen, dazu gibt es kaum Forschung. Ich vermutenicht viel. Nur ein Teil dieser Leute würde links wählen. Ausserdem wäre ihre Wahlbeteiligung wohl geringer als die der heute stimmberechtigen Bevölkerung.

Wieso?

Auch dazu haben wir wenig Daten. Grundsätzlich gehen Arbeiterinnen und Arbeiter im Tieflohnbereich weniger zur Urne als andere Bevölkerungsgruppen.

Seit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage. Ein wachsender Teil der Bevölkerung lebt in Armut oder ist davon bedroht. Wieso finden ihre Stimmen im Parlament so wenig Gehör?

Die Schweiz gehört immer noch zu den reichsten Ländern der Welt. Nun ist auch sie mit steigenden Energie- und Mietpreisen und Krankenkassenprämien konfrontiert. Ich vermute, dass diese Themen im Wahlkampf eine Rolle spielen werden. Knapp neun Prozent der Bevölkerung sind von Armut betroffen, knapp über 15 Prozent armutsgefährdet, Tendenz leicht steigend. Diese Leute sitzen nicht im Parlament, während die Mehrheit der Politikerinnen und Politiker der Mittelklasse angehört. Die Ärmsten gehen, wie gesagt, kaum wählen.

Armut ist traditionell das Thema der Linken. Wird sie in Zukunft mehr punkten?

Die Wahlbevölkerung schreibt der SP die grösste Kompetenz und das grösste Engagement in der Sozialpolitik zu, aber auch auf der rechten Seite versucht besonders die SVP, ökonomisch schwächere Bevölkerungsschichten anzusprechen, teilweise mit Erfolg.

Was die Polarisierung der Parteienlandschaft angeht, war die Schweiz die Vorreiterin in Europa. Gehört sie in Bezug auf das Thema Armut zur Nachhut?

Die Parteien haben ein gutes Gespür dafür, was die Menschen beschäftigt. Sie greifen diese Themen im Wahlkampf auf und präsentieren Lösungen. Armut war in der Schweiz der letzten Jahrzehnte kein dominierendes Thema, was auch damit zu tun hat, dass die wirtschaftliche Ungleichheit im internationalen Vergleich relativ tief ist. Natürlich könnte sich dies in den nächsten Jahren ändern, aber wie gesagt, eine Prognose wage ich lieber nicht.

Das Gespräch fand Anfang März 2023 statt. (Universität Basel/mc/ps)

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