Bern/Strassburg – In der Politik wird die Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sehr unterschiedlich aufgenommen. Das Recht auf ein gesundes Klima sei ein Grundrecht, heisst es von den Grünen. «Lächerlich» nennt die SVP den Richterspruch.
Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei laut dem Urteil ein Grundrecht, sagte Grünen-Parteipräsidentin Lisa Mazzone am Dienstag in Bern vor den Medien. Es sei das erste derartige Urteil für ein Land und setze ein klares, verbindliches Ziel. Die Mittel, um es zu erreichen, lasse es offen. Die Grünen wollen im Juni in einer dringlichen Debatte im Parlament ihre Forderungen diskutieren.
«Hausaufgaben machen»
Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.
Die Schweiz mit ihren hohen Klimaschulden und gleichzeitig vielen Mitteln in Sachen Technologie und Wissen müsse in Klimafragen ein Vorbild sein, sagte Grossen der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Wir müssen unsere Hausaufgaben selber machen.»
Die SP sieht ihre Forderungen bestätigt. Sie verlangte erneut öffentliche Investitionen für das Gelingen der Energie- und Klimawende und kritisierte den Bundesrat für dessen Untätigkeit. «Dieses Urteil ist eine Ohrfeige für den Bundesrat», liess sich SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer zitieren.
«Lächerliches Urteil»
Ganz anders der Tenor bei SVP, Mitte und FDP. Der St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger nannte das EGMR-Urteil «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten.
Die Schweiz betreibe eine gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg, sagte Egger. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes.
«Völlig unverständlich» ist das Urteil für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte revidierte und verschärfte CO2-Gesetz. Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz».
Rüge an die Adresse des Stimmvolks
Dank der direktdemokratischen Mittel könnten sich in der Schweiz die Menschen mit ihren Anliegen bemerkbar machen, so Wasserfallen. Auch der St. Galler Mitte-Nationalrat Nicolò Paganini ist der Ansicht, dass die Rüge eigentlich ans Schweizer Stimmvolk gehe für das Nein zum von seiner Fraktion unterstützten strengeren CO2-Gesetz.
«Im Schweizer System können keine Richter Entscheide von Volksabstimmungen umstossen», sagte Paganini. Das sei Teil der politischen Kultur in der Schweiz. Er schlägt vor, dass die Klimaseniorinnen eine Volksinitiative starten könnten mit ihrem Anliegen.
Bundespräsidentin Viola Amherd zeigte sich überrascht vom Urteil gegen die Schweiz. Die Begründung interessiere sie, sagte Amherd an einer Medienkonferenz anlässlich ihres Besuchs in Österreich. Sie sei gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.
WWF: Erfolg für alle Generationen
Laut dem Umweltschutzverband WWF ist der Sieg der Klimaseniorinnen ein Erfolg für alle Generationen. Auf X sprach der WWF von einem weitreichenden Präzedenzfall. Und: «Offizieller geht es kaum: Die Schweiz muss endlich handeln.»
Die Schweizerische Energiestiftung (SES) bezeichnete das Urteil in einer Mitteilung auf X als historischen Sieg. Für den Verein Klimaschutz bestätigt das Urteil ein schon lange bestehendes Anliegen des Vereins. Die Schweiz mache nach wie vor zu wenig für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise. (awp/mc/pg)