Ringen um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Bern – Das inländische Arbeitskräftepotenzial werde gut und genug gefördert, lautet der Tenor von Bund, Kantonen und Arbeitgebern nach dem ersten nationalen Spitzentreffen «Fachkräfte Schweiz». Die Arbeitnehmerseite widerspricht: Bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie brauche es Taten statt leere Worte.
Nach dem hochdotierten Treffen zur Fachkräfteinitiative vom Montag waren die Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern am Point de Presse im Bernerhof nicht zu übersehen. Bei Wortmeldungen der einen Seite gab es auf der anderen Seite jeweils nur Kopfschütteln.
Dabei hatte Bundespräsident Johann Schneider-Ammann gar keine neuen Beschlüsse vorgestellt, sondern nur «Inventar gemacht über die Arbeit der vergangenen Jahre», wie er selber sagte. Nach Meinung des Bundesrats ist die Fachkräfteinitiative auf gutem Weg, 43 Massnahmen seien umgesetzt oder aufgegleist und weit gediehen.
Bundesrat lobt sich selbst
Der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) verwies etwa auf den Schlussbericht zum Masterplan Bildung Pflegeberufe. Dieser habe gezeigt, dass die Attraktivität und die Anzahl der Ausbildungsabschlüsse im Pflegebereich in den vergangenen Jahren bereits gestiegen seien.
Weiter wolle der Bundesrat mit einer Anschubfinanzierung von 100 Mio CHF zusätzliche Ausbildungsplätze für Ärzte finanzieren. Neu sollen zukünftig pro Jahr 1300 Humanmediziner ausgebildet werden – bisher waren es 900.
Auf diesen Erfolgen lasse sich aufbauen, sagte Schneider-Ammann. Dies sei auch vor dem Hintergrund der schwierigen Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative vonnöten. Der Wirtschaftsminister versicherte: «Wir bleiben weiterhin intensivst daran, reden möglichst wenig und liefern.» Mit den Sozialpartnern seien weitere Spitzentreffen geplant.
Appell an die Unternehmen
Alles andere als euphorisch zeigten sich nach dem ersten Zusammenkommen die Vertreter der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften. «Es ist Zeit zu handeln», sagte Adrian Wüthrich, Präsident des Arbeitnehmerdachverbands Travail.Suisse.
Fünf Jahre nach deren Lancierung könne die Fachkräfteinitiative zu wenig Handfestes vorweisen. Bei einer Unterbeschäftigung von sieben Prozent wäre dies aber dringend angezeigt. Wüthrich appellierte auch an die Unternehmen, die vor allem beim Beschäftigungsgrad der Männer flexibler werden müssten.
«Die Bilanz ist ernüchternd», sagte auch SGB-Präsident Paul Rechsteiner. Laut dem St. Galler SP-Ständerat hinkt die Schweiz in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie anderen OECD-Ländern weit hinterher. Es gebe hunderttausende Angestellte, die sich wünschten, mehr zu arbeiten.
Zusätzliche Investitionen gefordert
Die Resultate seien bisher ungenügend. Der Nutzen des Spitzentreffens dürfe sich nicht an den beträchtlichen Papierbergen im Vorfeld messen, sondern an konkreten Ergebnissen. Solche sehe er nicht, sagte Rechsteiner. «Es braucht dringend eine Weiterentwicklung.»
In vielen Kantonen gebe es zwar Fortschritte, der Arbeitsmarkt werde flexibler ausgestaltet. Verschiedene Sparpakete gefährdeten jedoch diese positive Entwicklung. Dabei ist für den Gewerkschafter klar, dass bei der Bildung der Rotstift in keinem Fall angesetzt werden dürfe.
Konsens ist unter den verschiedenen Beteiligten, dass die Arbeitnehmenden Beruf und Familie besser unter einen Hut bringen können müssen. Geht es nach dem SGB und Travail.Suisse, braucht es zusätzliche Investitionen in familienergänzende Betreuungsstrukturen.
Status Quo genügt
Solche Subventionen, wie sie der Bundesrat Ende Juni dieses Jahres vorgeschlagen hat, stossen aber bei den Arbeitgebern auf Ablehnung. Sie fordern vielmehr weitere Deregulierungsmassnahmen. «Wir haben bereits einen flexiblen Arbeitsmarkt», sagte Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbands (SAV). Dies sei auch ein Verdienst der Schweizer Wirtschaft.
«Zur Integration der älteren Arbeitnehmenden in das Erwerbsleben haben die Unternehmen bereits sehr viel getan», sagte auch Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (sgv). Die Schweiz könne sich mit den Besten der Welt messen, was die Erwerbsbeteiligung von Personen im Alter von 55 bis 64 Jahren angehe. Das Gleiche gelte für die hohe Erwerbsbeteiligung bei den Frauen.
Der Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), Jean-Michel Cina, lobte auch die Arbeit der Kantone. Diese machten schon sehr viel zur Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials. Um Frauen und Männern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen, hätten die Kantone und Gemeinden das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen in den vergangenen Jahren massiv ausgebaut. Doch auch er sagte: «Der Staat kann nicht alles richten.» (awp/mc/pg)