Bern – Nach der Untersuchung von Belästigungsvorwürfen beim Westschweizer Radio- und Fernsehen RTS verlassen der TV-Chefredaktor und der Leiter der Personalabteilung den Sender. SRG-Generaldirektor Gilles Marchand und RTS-Chef Pascal Crittin dürfen bleiben. Die SRG-Spitze verspricht einen umfassenden Kulturwandel.
Der SRG-Verwaltungsrat sprach Marchand und Crittin sein Vertrauen aus. Der damalige RTS-Direktor Marchand habe seine «sekundäre Aufsichtsverantwortung» zwar «zu wenig wahrgenommen», sagte SRG-Verwaltungsratspräsident Jean-Michel Cina am Freitag an einer virtuellen Medienkonferenz. Das stelle in der Einschätzung der Gutachterinnen und Gutachter aber keinen «gravierenden Fehler» dar.
Der Verwaltungsrat sei deshalb der Ansicht, dass Marchand die richtige Person für die SRG sei, um die geforderten Veränderungen in der Unternehmenskultur durchzusetzen. Dem aktuellen RTS-Direktor Crittin könne kein Fehlverhalten vorgeworfen werden. Es bestehe deshalb kein Handlungsbedarf.
Marchand selber, der zum Zeitpunkt der Mehrheit der geschilderten Vorfälle RTS-Direktor war, meinte auf die Frage, ob er für die Umsetzung des Kulturwandels der richtige Mann sei, das habe nicht er entschieden. Der Verwaltungsrat traue ihm dies offensichtlich zu. Marchand entschuldigte sich jedoch dafür, dass er 2014 nach Mobbingvorwürfen die eingeleitete Untersuchung zu wenig lange geführt habe.
Cina bedauert und bittet um Entschuldigung
Auch Cina begann seine Ausführungen mit dem tiefen Bedauern zu jedem einzelnen Belästigungsfall und bat die Opfer um Entschuldigung. Die Nulltoleranz werde in Zukunft eine hohe strategische Priorität im Konzern haben. Dass sich weniger Vorwürfe erhärtet hätten als ursprünglich beschrieben, dürfe nichts ändern an der Seriosität der Abklärungen und am künftigen Umgang mit der Belästigungsproblematik. «Jeder Fall ist einer zuviel.»
Deshalb muss die RTS-Führungsriege des Westschweizer Radio- und Fernsehen RTS nach der Belästigungsaffäre künftig namentlich ein obligatorisches Schulungsprogramm absolvieren. Bei Nichteinhaltung der neuen Bestimmungen drohen Sanktionen.
Über definitive Massnahmen werde der SRG-Verwaltungsrat entscheiden, wenn der Schlussbericht zur ersten Untersuchung über die Wirksamkeit der internen Instrumente vorliege, sagte SRG-Verwaltungsrätin Ursula Gut-Wintersberger. In jeder Abteilung soll es künftig Vertrauenspersonen geben, die Betroffene im Bedarfsfall angehen können.
Keine Verfehlung bei Moderator Rochebin
Am 31. Oktober hatte die Westschweizer Zeitung «Le Temps» unter Berufung auf anonyme Quellen enthüllt, dass es innerhalb von RTS während Jahren zu Mobbing und zu sexueller Belästigung gekommen sei. Die Befragten berichteten in der Recherche von offener Belästigung, ungewollten Küssen, anzüglichen Kommentaren und systematischem Machtmissbrauch.
Angeschuldigt wurden drei Mitarbeiter, darunter Darius Rochebin, langjähriger Star-Moderator der RTS-Tagesschau. Die Direktion und die Personalverantwortlichen von RTS hätten konsequent weg geschaut. Rochebin, der im Herbst zum französischen Nachrichtensender LCI wechselte, reichte unterdessen Verleumdungsklage gegen «Le Temps» ein.
Die von der SRG eingesetzten unabhängigen Sachverständigen kamen nun zum Schluss, dass sich Rochebin keiner sexuellen Belästigung oder Mobbing schuldig gemacht habe. Rochebin begrüsse die Ernsthaftigkeit der in der Schweiz durchgeführten Untersuchungen, erklärte dessen Anwalt am Freitag in Paris. Die Schlussfolgerungen bestätigten, was sein Mandant vom ersten Tag an gesagt habe: er sei unschuldig.
Abgänge nach Belästigungen
In den beiden anderen Fällen hingegen haben die Expertinnen und Experten Handlungen festgestellt, die als Belästigung qualifiziert worden sind. In beiden Fällen hat RTS Massnahmen ergriffen.
So muss ein Kadermitarbeiter gehen, gegen den die schwerwiegendsten Vorwürfe erhoben wurden. Ein weiterer Mitarbeiter der Nachrichtenredaktion wurde formell sanktioniert. Obwohl es zu keinen gravierenden Fehlern in der Chefetage gekommen ist, verlassen auch der TV-Chefredaktor und der Leiter der Personalabteilung den Sender.
Weitere disziplinarische Massnahmen nach über 200 auf einer externen Hotline eingegangenen und ausgewerteten Zeugenaussagen von RTS-Mitarbeitenden sind laut Crittin unwahrscheinlich.
SSM bemängelt gleiche Schlüsselpersonen
Das Schweizer Syndikat Medienschaffender (SSM) sprach in einer Mitteilung von einem «ersten kleinen Schritt» und forderte griffige Reformen und echte Mitbestimmung des Personals. Die vorgestellten Massnahmen reichten nicht aus, um das Vertrauen der Belegschaft in die Führung wieder herzustellen.
Insbesondere die Rolle von SRG-Direktor Marchand sieht das SSM weiterhin als «problematisch», weil er 2014 nicht adäquat gehandelt habe. Die Umsetzung des proklamierten kulturellen Wandels mit den fast gleichen Schlüsselpersonen umzusetzen, sei «nicht zielführend und unglaubwürdig».
Empörte Medienministerin
Medienministerin Simonetta Sommaruga reagierte empört auf die Ergebnisse der Untersuchung. Dass Mitarbeitende sexuell belästigt worden seien, sei «inakzeptabel». Sie erwarte von der SRG, dass sie alles unternehme, um weitere Vorfälle zu vermeiden und Sexismus, Belästigung und Diskriminierung zu verhindern. «Den Worten müssen Taten folgen», hiess es in einer Mitteilung. Die SRG habe eine Vorbildfunktion.
Es brauche einen Kulturwandel. Alle Unternehmenseinheiten müssten rechtzeitig hinschauen und bei Fehlverhalten die nötigen Konsequenzen ziehen. Sommaruga will sich über die Umsetzung der Massnahmen laufend informieren lassen. Die SRG muss ihrem Departement entsprechend rapportieren. (awp/mc/pg)