Bern – Der Schweizer Impf-Motor stottert. Schien das Land im Frühjahr noch auf der Überholspur, was das Impf-Tempo betrifft, droht der Kampagne nun die Luft auszugehen. Und es fehlt nicht an Warnungen: so fordert der oberste kantonale Gesundheitsdirektor Lukas Engelberger aus Basel-Stadt eine Neulancierung der Impf-Kampagne.
Die Impf-Dynamik müsse aufrecht erhalten und wo nötig neu entfacht werden, sagte Engelberger im Interview mit der «Sonntags-Zeitung». Gerade Schülerinnen und Schüler müssten angegangen werden. Die Kantone würden ihr Impfangebot anpassen, um die Ungeimpften anzusprechen.
So lange so viele Kinder und Jugendliche noch nicht geimpft seien, müsse zudem an Schulen weiterhin breit getestet werden. Die Massentests seien ein wichtiges Instrument, um die Epidemie zu kontrollieren. Für eine zusätzliche Sicherheit sollte daher auch in möglichst vielen Betrieben weiterhin routinemässig getestet werden.
Ausserdem brauche es gezielte Aktionen, um gewisse Bevölkerungsgruppen anzusprechen, zum Beispiel via Kulturvereine. Die Migrationsbevölkerung werde zudem mit Whatsapp-Sprachnachrichten direkt angesprochen.
Weiter würden niederschwellige Angebote geschaffen, zum Beispiel bei Einkaufszentren. «Dort werden sich viele noch Unentschlossene dann spontan impfen lassen», sagte Engelberger. «Jedes zusätzliche Prozent zählt.» 70 Prozent, wie es Experten fordern, sollten angestrebt werden. Engelberger hält dies für realistisch.
Verdüsterte Aussichten
Dem widerspricht das Ergebnis einer Umfrage bei verschiedenen Kantonen, die die «Sonntags-Zeitung» veröffentlichte. Ihr zufolge dürfte kaum ein Kanton bis zum Herbst eine Impfquote von deutlich über 60 Prozent erreichen. Das vom Bund formulierte Impfziel von 75 Prozent der Bevölkerung sei damit in weite Ferne gerückt, eine Immunität von über 80 Prozent, mit der die erwartete vierte Welle im Herbst verhindert werden könnte, sei ausgeschlossen.
Im Kanton Zürich wurden in der Woche bis zum 27. Juni noch über 10’000 Personen pro Tag geimpft, in der darauf folgenden Woche aber weniger als 500, schreibt die «SonntagsZeitung».
Zudem sei die Impfbereitschaft bei den Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 15 Jahren tief, schreibt die «NZZ am Sonntag». Bei den Gesundheitsbehörden der Kantone hätten sich bislang im Durchschnitt nicht einmal zehn Prozent für eine Impfung angemeldet.
Berset sieht Problem in Altersheimen
Bundesrat Alain Berset zeigte sich besorgt, weil derzeit 20 Prozent der Menschen über 80 Jahre nicht geimpft seien. Auch in anderen verletzlichen Gruppen wollten sich noch zu viele nicht impfen lasse, sagte Berset gegenüber der «Neuen Zürcher Zeitung» vom Samstag.
«In den Altersheimen haben wir ein gröberes Problem», sagte der Gesundheitsminister weiter. Es scheine, dass sich ein beträchtlicher Teil des Personals der Heime oder auch der Spitex nicht impfen lassen wolle. Das gefährde ältere Menschen. Das dürfe nicht sein.
«Unkontrollierte EM-Euphorie»
Vor einer «unkontrollierten EM-Euphorie» warnte Urs Karrer, Vizepräsident der Covid-Taskforce des Bundes. Die EM werde einen corona-bedingten Todeszoll fordern, sagte er im Interview mit dem «Sonntags-Blick». Vom Verhalten jetzt hänge es ab, wie wie die Schweiz durch den Winter komme.
Die epidemiologische Lage in Europa präsentiere sich zurzeit nicht so, dass Massen-Events wie an der Fussball-Europameisterschaft unkontrolliert durchgeführt werden könnten. Und Emotionen, die zu einer EM gehören, seien das Gegenteil von Kontrolle.
«Die EM ist für das Virus ein ideales Terrain», sagte Chefarzt der Infektiologie des Winterthurer Kantonsspitals. Es seien bereits mehrere Massenansteckungen bekannt geworden: Knapp 2000 schottische Fans hätten sich in London angesteckt, ebenso hunderte Finnen rund um zwei Spiele in St. Petersburg. (awp/mc/pg)