Bern – Die Schweizer Wirtschaft rutscht entgegen den Erwartungen doch nicht in die Rezession. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg im zweiten Quartal um 0,2%, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am Freitag mitteilte. Von einer Entwarnung kann aber noch lange nicht die Rede sein.
Im ersten Quartal war das BIP noch um 0,2% geschrumpft. Analysten hatten erwartet, dass das BIP auch im zweiten Quartal zurückgeht. Nach zwei rückläufigen Quartalen hätte sich die Schweiz nach Leseart der meisten Ökonomen in einer Rezession befunden. Gegenüber dem Vorjahr erhöhte sich das reale BIP im zweiten Quartal 2015 um 1,2%.
Um null Prozent legte somit das BIP im ersten Halbjahr zu. Das ist das schwächste Ergebnis seit der letzten Rezession im Jahr 2009. «Die Schweizer Wirtschaft machte eine Vollbremsung», sagte Eric Scheidegger, Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik beim Seco.
Industrie überrascht
Dass das BIP im zweiten Quartal leicht zulegte, liegt zu einem grossen Teil an der Industrie. «Die Industrie ist die grosse Überraschung», sagte KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm der Nachrichtenagentur sda. Erwartet wurde, dass gerade die exportorientierte Industrie stark unter dem Währungsschock leiden würde. Denn durch den starken Franken werden ihre Produkte im Ausland teurer.
Doch das Gegenteil ist passiert: Das durch die Industrie und die Landwirtschaft generierte Bruttoinlandprodukt legte im zweiten Quartal um 0,9% zu. Die Industrie hat es also es geschafft, vom leichten wirtschaftlichen Aufschwung in Europa und Amerika zu profitieren. Um mit den ausländischen Konkurrenten mithalten zu können, senkte sie allerdings die Preise. Ob sich die Industrie den Exporterfolg dauerhaft zu den tieferen Preisen erkaufen könne, bleibe abzuwarten, erklärte KOF-Chef Sturm.
Aussenüberschuss dankt Import-Minus
Doch nicht nur die höheren Exporte stützten das BIP, sondern auch ein weiterer überraschender Effekt: Die Importe nämlich brachen um 3,6% ein. Einen so deutlich Rückgang habe es noch selten gegeben, hält das Seco in seiner Mitteilung fest. Im Gegenzug stiegen die Exporte um 0,5% und das Handelsbilanzüberschuss schwoll an. CS-Ökonom Maxime Botteron zufolge wurde das BIP durch diese Bewegung um einen fast Prozentpunkt erhöht.
Nach Sturms Einschätzung dürften es die Firmen sein, die weniger Produkte aus dem Ausland bezogen haben. Über die Gründe können die Ökonomen nur spekulieren: Vermutlich seien die Firmen im Moment zurückhaltend mit dem Kauf von Vorprodukten, schätzte Scheidegger vom Seco. Sturm von der KOF sagte, die Unternehmen versuchten dadurch möglicherweise die Lagerkosten zu senken.
Eine wichtige Stütze der Wirtschaft bleiben die Konsumenten. Die Ausgaben der Haushalte und privaten Organisationen stiegen um 0,3%, diejenigen des Staates um 0,2%. Die Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen stiegen gar um 1,5%, nachdem sie zum Jahresstart um 0,4% geschrumpft waren. Die Bauinvestitionen stagnierten mit +0,1%.
Frankenschock ist nicht überwunden
Der Frankenschock dürfe nun aber keinesfalls als überwunden angesehen werden, schreibt das Konjunkturforschungsinstitut Bakbasel in einem Kommentar. Die Daten seien weniger eindeutig, als auf den ersten Blick scheine.
Von einem Aufschwung im zweiten Halbjahr gehen die Ökonomen nicht aus. Alessandro Bee von der Bank Sarasin erwarte, dass die Entwicklung verhalten verläuft. Denn angesichts des erwarteten Anstiegs der Arbeitslosigkeit in der Schweiz dürfte sich auch die Konsumentenstimmung eintrüben.
Auch Scheidegger vom Seco sagte, die Situation bleibe schwierig. Der Franken sei weiterhin stark. Ausserdem bereite die Entwicklung in China Sorgen. «Eine mögliche Abkühlung der Weltkonjunktur würde die Schweizer Wirtschaft zusätzlich belasten», sagte er. (awp/mc/upd/ps)