Rüschlikon – Die Schweizer Bevölkerung hat so viel freie Zeit wie noch nie. Doch Anforderungen von Job, Familie und Freizeit wachsen. Zeitstress wird zum Gesellschaftstrend, der alle Lebensbereiche betrifft. Und Zeitmanagement ist eine der grössten Herausforderungen im Alltag. Das zeigt eine repräsentative Befragung aus der Studie «Ausgebummelt – Wege des Handels aus der Spass- und Sinnkrise» des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI).
In den vergangenen 150 Jahren hat die Arbeitszeit stetig abgenommen. Die Menschen in der Schweiz haben heute aufgrund des technischen Fortschritts und der Regulierung des Arbeitsmarktes so viel freie Zeit wie nie zuvor. Automatisierung und künstliche Intelligenz könnten diesen Trend fortschreiben.
Doch trotz des stetigen Zugewinns an Freizeit zeigen die Daten der GDI-Umfrage: Etwa 30 % der Schweizer Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (zwischen 15 und 64 Jahre) leiden häufig oder fast immer unter Zeitstress. Fast 60 % der Befragten geben an, dass der Zeitstress in den letzten fünf Jahren zugenommen hat. Wenn knapp ein Drittel aller Erwerbsfähigen Tag für Tag einer Verpflichtung nach der anderen hinterher hetzt, Tendenz steigend, ist Zeitstress ein Gesellschaftstrend.
Zeitstress in allen Lebensbereichen und vor allem bei Jüngeren
Die Ergebnisse der GDI-Befragung zeigen ausserdem, dass Zeitmangel ein Phänomen in allen Lebensbereichen ist: bei der Arbeit, in der Freizeit, im Alltag generell. Während in der Arbeit und der Ausbildung 36 % der Schweizer Bevölkerung häufig oder fast immer unter Zeitstress stehen, erleben 19 % der erwerbsfähigen Schweizer Bevölkerung häufig oder fast immer auch Zeitstress in der Freizeit.
Zeitstress in der Freizeit ist besonders bei jüngeren Menschen verbreitet. 34 % der 16- bis 24-Jährigen haben in der Freizeit (Arbeit 47 %) häufig oder fast immer Zeitstress, bei den 55- bis 64-Jährigen sind es nur 8 % (Arbeit 28 %). Oft haben jüngere Menschen das Gefühl, viele Verpflichtungen und Erwartungen erfüllen zu müssen. Sie wollen alles ausprobieren und sind stärker von der Angst getrieben, etwas zu verpassen (FOMO, bzw. «fear of missing out»).
Work-Life-Blending ist einer der grössten Stressfaktoren
Auch die Verpflichtungen zu Hause rauben Zeit. Hierzu gehören Hausarbeit (32 % der Befragten) und Administratives (25 %), wie sich um die Post zu kümmern oder Rechnungen zu bezahlen. Aber auch Arbeit, die in die Freizeit greift, führt zu wachsendem Zeitstress (24 %). Dieses Work-Life-Blending gehört zu den wichtigsten Stressfaktoren in der Freizeit. Besonders die Erwartung, ständig erreichbar sein zu müssen, stresst die Schweizer Bevölkerung (29 %). Beide Aspekte sind Folge des hybriden Arbeitens, das es vielen Menschen erschwert, eine klare Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zu ziehen.
Daneben gibt es reinen Freizeitstress. Verpflichtungen gegenüber Freunden, Familie und Bekannten, die man erfüllen muss – oder glaubt, erfüllen zu müssen. Aber auch die Art und Weise, wie Menschen ihre Freizeit gestalten, hat Einfluss auf ihr Stresslevel. Der steigende digitale Konsum geht dabei auf Kosten der Zeit, die Menschen zuvor mit regenerativen (z.B. Ausschlafen) oder sozialen Aktivitäten (Zeit mit Freunden) verbracht haben.
Als Konsequenz ist heute Zeitmanagement zu einer der grössten Herausforderungen im Alltag der Menschen geworden. Bei den Jungen sogar die grösste.
Hohes Stresslevel, niedrige Lebenszufriedenheit
35 % aller Befragten in der GDI-Umfrage wünschen sich mehr Zeit für sich selbst. Dieses Ergebnis verdeutlicht, wie sich die Spannung zwischen Job, Familie und eigenen Bedürfnissen in den vergangenen fünf Jahren verschärft hat, denn wie wir unsere Zeit gestalten, hat unmittelbaren Einfluss auf unsere Lebenszufriedenheit.
So sind mehr als 70 % derjenigen, die nie oder selten Zeitstress haben, mit ihrem Leben (eher oder sehr) zufrieden. Umgekehrt sind mehr als 40 % derjenigen, die häufig oder fast immer Zeitstress verspüren, mit ihrem Leben nicht zufrieden (weder noch, eher oder sehr unzufrieden). 50 % derjenigen, die häufig oder fast immer Zeitstress verspüren, schätzen ihre mentale Verfassung als eher oder sehr negativ ein.
Was Schweizer Bevölkerung Freude und Bedeutsamkeit verschafft
Gefragt nach ihren Wünschen, hätten fast 40 % der 25- bis 54-Jährigen lieber mehr Zeit als Geld, bei der älteren Bevölkerung ist es umgekehrt. Ob wir Glück und Zufriedenheit empfinden, hängt aber auch davon ab, wie viel Freude und Bedeutsamkeit wir einer Aktivität beimessen.
Als Sinn stiftend und Freude bereitend empfindet die Schweizer Bevölkerung soziale Aktivitäten wie Zeit mit der Familie oder mit Freunden zu verbringen und regenerative Aktivitäten wie Zeit zum Entspannen oder in der Natur. Auch persönliche Entwicklung, etwas Neues lernen, neue Erfahrungen sammeln, gehören dazu.
Andere Aktivitäten bereiten weder Freude noch sind sie bedeutsam. Pendeln etwa wird von den meisten Menschen als Zeitverschwendung empfunden und macht unglücklich. Hausarbeit wird grösstenteils als Zeitfresser wahrgenommen.
Wiederum andere Aktivitäten machen eher wenig Spass, sind aber bedeutsam. Hierzu zählen bezahlte Arbeit oder Sport. Beides bereitet vielen Menschen im Moment der Durchführung nicht unbedingt Freude, fördert aber langfristig die finanzielle, physische und mentale Gesundheit. So tragen auch diese Aktivitäten zur Lebenszufriedenheit bei. Umgekehrt bei medialer Unterhaltung: Filme oder Serien schauen macht zwar meist Spass, wird aber kaum als sinnstiftend empfunden. (mc/pg)
Methodik
Für die Studie wurden im Juli und August 2023 zwei repräsentative Konsumentenbefragungen unter insgesamt 1500 DeutschschweizerInnen durchgeführt. Ergänzend wurden zahlreiche internationale Studien, wissenschaftliche Artikel und Datenbanken ausgewertet. Dies dient zum einen der Validierung der Ergebnisse. Zum anderen zeigt es, dass die identifizierten Trends über die Grenzen der Schweiz hinaus gültig sind. Die Studie «Ausgebummelt – Wege des Handels aus der Spass- und Sinnkrise» steht kostenlos unter gdi.ch/retail-studie zum Download bereit.