Zürich – Europaweit wurden 2020 insgesamt 5‘578 Investitionsprojekte von ausländischen Investoren angekündigt, das waren 13 Prozent weniger als 2019 – einen derartigen Einbruch gab es selbst 2009 nach der Finanzkrise nicht. Vor dem Hintergrund der erheblichen Einschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens durch Covid-19 wurde allerdings ein noch viel stärkerer Rückgang der Investitionstätigkeit erwartet.
Einige mittelgrosse Volkswirtschaften – wie Polen, die Türkei und Österreich – konnten im letzten Jahr sogar mehr Investitionsprojekte ausländischer Unternehmen anziehen als 2019. Auch in der Schweiz wurde dieser gegenläufige Trend festgestellt: Die Zahl der Investitionsprojekte in der Schweiz stieg 2020 um 25% und erreichte mit 91 Projekten sogar den höchsten Stand seit 2011. Damit erzielte die Schweiz Rang 14 der europäischen Länder (2019: 17. Platz).
«Diese erfreuliche Entwicklung ist in erster Linie auf das gestiegene Engagement von deutschen Unternehmen bei uns zurückzuführen; die Zahl der Investitionsprojekte deutscher Unternehmen hat sich 2020 fast verdoppelt,» analysiert Michael Messerli, Partner und Leiter Strategy & Transaction bei EY in der Schweiz. US-amerikanische Firmen blieben an zweiter Stelle. Gesunken hingegen ist offenbar das Interesse britischer Investoren. «Und es fällt auf, dass aus unserem Nachbarland Italien erneut nur sehr wenige Investitionen in der Schweiz gezählt wurden.»
Schweizer investierten vor allem in Deutschland
Mit 256 Investitionsprojekten lag das Engagement von Schweizer Unternehmen im europäischen Ausland 2020 auf Vorjahresniveau (258). Dabei gab es allerdings gewisse Verschiebungen: Deutschland gewann als Investitionsziel an Bedeutung, während die Zahl der Projekte in Frankreich deutlich zurückging – damit löste Deutschland im letzten Jahr Frankreich als beliebtestes Investitionsziel der Schweizer Unternehmen ab. Spanien und Grossbritannien folgen mit jeweils etwa einem Drittel der Investitionsprojekte.
Insgesamt zeigt die aktuelle Studie des Prüfungs- und Beratungsunternehmens EY zu den ausländischen Direktinvestitionen im Jahr 2020 in der Schweiz und in Europa, dass der Rückgang ausländischer Investitionen unter dem Strich deutlich geringer ausfiel als zunächst befürchtet. «Die Corona-Pandemie führte zwar im Frühjahr 2020 zu einer Art Schockstarre in ganz Europa, zu massiven Sparmassnahmen und zu einem vorübergehenden Stopp vieler Investitionsprojekte», resümiert Michael Messerli. «Aber bereits in der zweiten Jahreshälfte kam die Wirtschaft vielerorts und teilweise sogar überraschend schnell wieder in Gang und das Investitionsumfeld verbesserte sich wieder.»
Positive Aussichten für die Schweiz und Europa
Ausländische Unternehmen sehen Europa grundsätzlich immer noch als eine der weltweit attraktivsten Regionen für langfristige Investitionen an – vor allem dank relativ stabiler politischer und regulatorischer Rahmenbedingungen, hochqualifizierter Arbeitskräfte und einer vergleichsweise robusten Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur. Dazu beitragen dürfte auch der (befristete) Wachstumsplan «NextGenerationEU» mit einem Budget von 750 Milliarden Euro, der Europa grüner, digitaler und krisenfester machen soll. Allerdings könnten die zuletzt aufgelegten Konjunkturprogramme der USA dazu führen, dass einige Investitionen von Europa in die USA verlegt werden.
Lieferketten müssen neu ausgerichtet werden
Bereits vor Covid-19 hatten Herausforderungen wie der damals noch bevorstehende Brexit, zunehmende Handelshemmnisse und immer neue geopolitische Spannungen zu Belastungen der immer der immer komplexer werdenden weltweiten Lieferketten geführt. Die Corona-Pandemie hat dann etwa bei Medizinbedarf rasch die Abhängigkeit von einigen wenigen Liefernationen vor Augen geführt.
André Bieri, Partner und Markets Leader Schweiz & Liechtenstein sagt dazu: «Die Just-in-Time-Produktion, die heute in vielen Branchen Standard ist, ist von einer konstanten und zuverlässigen Belieferung abhängig. Die temporären Grenzschliessungen im Zuge von Covid-19 haben gezeigt, dass dieses Lieferketten-Modell nicht immer funktionieren kann. Der derzeitige Mangel an Halbleiter-Chips zeigt ebenfalls, dass die Stärkung der Lieferketten ganz oben auf der Agenda vieler Unternehmen steht, um die Abhängigkeit von Produkten und Vorprodukten aus gewissen Ländern zu reduzieren.»
Nur nachhaltige Investitionen werden sich noch rechnen
«Die Pandemie hat dazu geführt, dass das sogenannte «Near-Shoring» in verschiedenen Branchen an Bedeutung gewinnt», so André Bieri. Die Neuausrichtung der Lieferketten wird zu einem zentralen Thema bei vielen Unternehmen – sei es durch weniger Abhängigkeit von Lieferketten von einzelnen, dominanten Herkunftsländern, regional ausgerichteten Liefermodellen, Kundennähe und einer Rückverlagerung von Aktivitäten in den heimischen Markt sowie generell einer Erhöhung der Produktion in Europa.
Er sieht den neuen Fokus der Unternehmen vielmehr auf Verlässlichkeit, Planbarkeit – und vor allem Nachhaltigkeit. In der Zeit nach Covid-19 würden Nachhaltigkeitsaspekte bei Investitionen eine noch viel grössere Rolle spielen als bisher: Die von nun an getätigten Investitionen müssen alleine schon aufgrund der zu erwartenden zukünftigen regulatorischen Anforderungen und politischen Entscheidungen klimaneutral erfolgen, sonst werden sie sich nicht rechnen. Entsprechend müsse sich auch die Schweiz als nachhaltiger Investitions- und Wirtschaftsstandort positionieren und die entsprechenden Rahmenbedingungen konstant überprüfen und anpassen. (EY/mc)
Für die Studie «EY Europe Attractiveness Survey» wurden Investitionsprojekte von ausländischen Investoren in Europa erfasst, welche zur Schaffung neuer Standorte und neuer Arbeitsplätze führen; Portfolio- und M&A-Investitionen werden hingegen nicht berücksichtigt. Zusätzlich wurde eine qualitative Befragung von 550 Entscheidungsträgern bei international tätigen Unternehmen durchgeführt, die im März und April 2021 stattfand. Diese Studie wird jährlich durchgeführt und veröffentlicht.