Zuwanderung: Nationalrat vermeidet Konfrontation mit EU

Nationalratssaal

Nationalratssaal. (Bild: Parlamentsdienste 3003 Bern)

Bern – Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative hat am Mittwoch die Emotionen im Nationalrat hoch gehen lassen. Überraschungen blieben aus. Die Mehrheit stimmte für den «Inländervorrang light», der mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar ist. Während der gut sieben Stunden dauernden Debatte schenkten sich die gegnerischen Lager nichts. Zur Diskussion stand ein Umsetzungskonzept der Staatspolitischen Kommission, das stark von den Anträgen des Bundesrats abweicht.

SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz (BE) bezeichnete dieses als einen in «Hochglanz verpackten Verfassungsbruch». Damit würden der Volkswille klar missachtet und die direkte Demokratie beerdigt. SP-Sprecher Cédric Wermuth (AG) entgegnete, das Parlament tue nichts anderes, als einen Normenkonflikt zu lösen.

Die Vertreter von FDP, SP, BDP und GLP zeigten keinerlei Neigung, die Bilateralen einer wortgetreuen Umsetzung zu opfern. Er habe keinen Auftrag, «dieses Land und seinen Wohlstand an die Wand zu fahren», sagte BDP-Präsident Martin Landolt (GL). Die SVP ihrerseits verlängerte die Redezeit ihrer Redner mit Zusatzfragen um ein Vielfaches. Die Emotionen gingen derart hoch, dass Ratspräsidentin Christa Markwalder (FDP/BE) zu gegenseitigem Respekt aufrufen musste.

Vorsprung statt Vorrang
Dagegen nehmen sich die Beschlüsse des Nationalrats geradezu unspektakulär aus. Vorgesehen sind drei Stufen von Massnahmen. Zunächst muss der Bundesrat dafür sorgen, dass das inländische Arbeitskräftepotenzial besser genutzt wird. Überschreitet die Zuwanderung trotzdem einen bestimmten Schwellenwert, können Arbeitgeber verpflichtet werden, offene Stellen dem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zu melden.

Eine Pflicht, Inländer anzustellen, gibt es aber nicht. Der Vorrang besteht laut Kommissionssprecher Kurt Fluri (FDP/SO) allein darin, den inländischen Arbeitskräften einen zeitlichen Vorsprung auf die Konkurrenz aus dem Ausland zu verschaffen.

Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen sind gemäss den Beschlüssen des Nationalrats weiter gehende «Abhilfemassnahmen» möglich. Diese offene Formulierung schliesst selbst Höchstzahlen nicht aus. Solche könnten aber nur mit Zustimmung der EU beschlossen werden.

Faktisches Vetorecht
Auch einseitige Massnahmen standen zur Diskussion. CVP-Präsident Gerhard Pfister (ZG) hatte vorgeschlagen, dass der Bundesrat befristete Abhilfemassnahmen beschliessen kann, wenn mit der EU innerhalb von 60 Tagen keine Einigung zu Stande kommt. Ohne diese Möglichkeit werde der EU faktisch ein Vetorecht eingeräumt, argumentierte er.

Laut Pfister wäre das so lange mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbar, wie der Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt nicht tatsächlich eingeschränkt wird. Justizministerin Simonetta Sommaruga bestätigte diese Auslegung. Sie lehnte den Antrag trotzdem ab: Den Bundesrat zu beauftragen, nötigenfalls in eigener Kompetenz Massnahmen im Widerspruch zum Freizügigkeitsabkommen zu beschliessen, gehe «viel zu weit», sagte sie.

Die Vertreter der Fraktionen warnten davor, eine Verletzung des Freizügigkeitsabkommens in Kauf zu nehmen. Massnahmen, die der gemischte Ausschuss nicht genehmige, seien mit dem Abkommen definitionsgemäss nicht vereinbar, sagte GLP-Fraktionschefin Tiana Moser (ZH). Nadine Masshardt (SP/BE) warf Pfister vor, mit seinem Antrag Horizon 2020 zu gefährden. FDP-Sprecher Philippe Nantermod (VS) warnte vor «Verrat» am Vertragspartner EU.

Der Nationalrat lehnte Pfisters Vorschlag mit 98 zu 93 Stimmen bei 5 Enthaltungen ab. Auch die SVP, die sich für eine Umsetzung mit Kontingenten und einem strikten Inländervorrang eingesetzt hatte, fand mit ihren Anträgen keine Mehrheit. Ihrer Ansicht nach wird die Initiative mit den Beschlüssen des Nationalrats nicht umgesetzt. «Wir haben nichts», stellte Parteipräsident Albert Rösti (BE) am Ende der Debatte fest. Darum stehe auch ein Referendum nicht zur Diskussion.

Kleine Korrekturen
Angenommen hat der Nationalrat einen Antrag Pfisters, Kurzaufenthalter, die die Schweiz nach höchstens neun Monaten wieder verlassen, von allfälligen Abhilfemassnahmen auszunehmen. Auch das vom Bundesrat vorgeschlagene härtere Regime in der Sozialhilfe fand eine Mehrheit: Ausländerinnen und Ausländer, die zur Stellensuche in die Schweiz kommen, haben keinen Anspruch auf Sozialhilfe.

Wer die Stelle verliert, soll nach einigen Monaten auch sein Aufenthaltsrecht verlieren. Der Nationalrat halbierte die Fristen gegenüber dem Bundesrat, was laut Sommaruga mit dem Freizügigkeitsabkommen nicht vereinbar ist.

Abgelehnt hat der Nationalrat die Anträge des Bundesrats, Kontingente für Studierende, Rentner, Patienten, Familienangehörige von Kurzaufenthaltern und vorläufig Aufgenommenen sowie andere nicht Erwerbstätige einzuführen. Diese hätten Bürgerinnen und Bürger von Drittstaaten betroffen. In diesen Bereichen finde keine Masseneinwanderung statt, erklärte Kommissionssprecher Fluri.

Die Vorlage geht nun an den Ständerat. Mitglieder der kleinen Kammer haben bereits Zweifel an der Verfassungsmässigkeit der Umsetzung geäussert. Die Debatte im Ständerat dürfte den Startschuss geben für die Diskussion über die Anpassung des Zuwanderungsartikels. Basis dafür könnte ein allfälliger Gegenvorschlag zur RASA-Initiative sein. Der Bundesrat muss bis Ende Oktober entscheiden, ob er einen solchen vorschlagen will. (awp/mc/pg)

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