Bern – Der Bundesrat will vorläufig nicht an den Flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit rütteln: Er hat die roten Linien für die Verhandlungen mit der EU bestätigt. Gleichzeitig beschloss er aber, im Sommer die Sozialpartner zu konsultieren.
Das sei kein Widerspruch, sagte Aussenminister Ignazio Cassis am Mittwoch vor den Medien in Bern. Er versicherte, dass der eigenständige Lohnschutz in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen nicht zur Disposition stehe. Es gelte aber, mit den Sozialpartnern über die Auslegung der roten Linien zu diskutieren.
Die EU hat seit vergangenem Jahr eine neue Entsenderichtlinie und wünscht nun, dass die Schweiz eine Regelung auf dieser Basis akzeptiert. Die EU-Richtlinie geht aus Sicht der Schweiz in die richtige Richtung, da sie besseren Lohnschutz vorsieht. Es bleibt aber eine Differenz zur Schweizer Regelung.
Umstrittene 8-Tage-Regel
Über dieses «Delta» will Cassis nun mit den Sozialpartnern sprechen. Nach seiner Darstellung stellt die EU nicht in Frage, dass die Schweiz mit ihrem hohen Lohnniveau einen besonderen Schutz braucht. Die EU stört sich aber an einzelnen Elementen, konkret zum Beispiel an der 8-Tage-Regel, wie Staatssekretär Roberto Balzaretti ausführte.
Gemäss dieser müssen Unternehmen aus der EU einen Auftrag in der Schweiz mindestens 8 Tage vorab den Schweizer Behörden melden. Das ermöglicht Lohnkontrollen – vor allem bei jenen, die nur kurz in der Schweiz arbeiten. Auch die Kautionen und die Dokumentationspflicht für Selbständigerwerbende hält die EU für übertrieben.
Mit Instrumenten der EU
Die Schweiz will daran festhalten. Die Frage sei nun, wie das gleiche Ziel allenfalls mit anderen Instrumenten – jenen der EU – erreicht werden könne, sagte Cassis. Die Gewerkschaften befürchten, dass dann die Schweiz ihre Löhne nicht mehr eigenständig schützen könnte, weil in Streitfällen möglicherweise der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheiden würde.
In der Streitbeilegung haben die Schweiz und die EU nämlich eine vorläufige Einigung erzielt. Vorgesehen ist, dass ein Schiedsgericht mit je einem Vertreter der EU, der Schweiz und einer dritten Partei in Streitfällen entscheidet. An den EuGH gelangt das Schiedsgericht nur, wenn die Auslegung einer EU-Bestimmung strittig ist und es dies für nötig hält.
Spezielle Schweizer Bestimmungen
Würde die Schweiz EU-Lohnschutz-Bestimmungen übernehmen, könnte also der EuGH in Streitfällen über deren Auslegung entscheiden. Cassis und Balzaretti erklärten jedoch, spezifische Schweizer Lohnschutz-Bestimmungen könnten als «Sui-generis-Recht» ausgestaltet werden, wie etwa die Ventilklausel oder die 40-Tonnen-Limite im Verkehr. Damit wären sie nicht durch den EuGH justiziabel.
Über all dies soll nun mit den Sozialpartnern diskutiert werden. Federführend ist das Wirtschaftsdepartement (WBF). Involviert sind zudem das Aussendepartement (EDA) sowie das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Spätestens im September will der Bundesrat dann eine erneute Bestandesaufnahme machen.
Inhalt wichtiger als Zeitplan
Der Bundesrat strebt nach wie vor eine Einigung mit der EU im Herbst an. Die EU ist ab November im Wahlmodus, wie Cassis feststellte. Niemand wisse, wie sie sich entwickle. Gleichzeitig betonte der Aussenminister, dass der Inhalt und die innenpolitische Unterstützung wichtiger seien als der Zeitplan.
Laut Cassis wurde auch in Betracht gezogen, andere Konzessionen zu machen, etwa bei der Unionsbürgerrichtlinie. Dort hätte man sich etwa fragen können, welche Elemente davon schon im Schweizer Recht existierten. Der Bundesrat habe das aber nicht gewollt, sagte Cassis, aus innenpolitischen Gründen. Die Unionsbürgerrichtlinie sei «psychologisch ein Problem».
Fortschritte erzielt
Cassis hob vor den Medien die Fortschritte hervor, die in den Verhandlungen erzielt wurden. Gleichzeitig stelle er aber fest, es gebe über nichts eine Einigung, wenn es nicht über alles eine Einigung gebe.
Fortschritte gab es laut Cassis nicht nur beim Mechanismus für die Streitbeilegung, sondern auch bei den staatlichen Beihilfen. Zu diesem Punkt hat der Bundesrat erneut seine Bereitschaft für eine Lösung bekundet, welche die Aufnahme nicht justiziabler Bestimmungen in das institutionelle Abkommen vorsieht. Die verbindlichen materiellen Bestimmungen sollen im Rahmen eines zukünftigen Marktzugangsabkommens verhandelt werden.
Auf die Frage, was denn eigentlich geschehe, wenn kein Rahmenabkommen zustande komme, sagte Cassis. «Die Schweiz überlebt sicher auch ohne. Die Frage ist aber, zu welchem Preis.» Ein institutionelles Abkommen sei «Öl im Getriebe», es gebe Rechtssicherheit für die Exportwirtschaft. Er wies auch auf mögliche «Nadelstiche» durch die EU hin – wie in der Frage der Börsenanerkennung. (awp/mc/pg)