Tessiner Wirtschaft ordnet sich neu
Die Tessiner Wirtschaft musste in der Mitte des letzten Jahrzehnts einige Rückschläge einstecken. So wurden Wirtschaftstätigkeit und Beschäftigung durch die Aufhebung des Euro-Mindestkurses, einen schrumpfenden Finanzplatz, die Zweitwohnungsinitiative und in jüngster Zeit durch die Coronavirus-Pandemie belastet. Die ungewisse Lage hat sich angesichts jahrelang rückläufiger Bevölkerungszahlen auch auf demografischer Ebene bemerkbar gemacht. Die starke Diversifizierung der kantonalen Wirtschaft hat sich als vorteilhaft erwiesen, um diese schwierige Phase zu überwinden. Der zunehmende Fokus auf Aktivitäten mit hoher Wertschöpfung kann die Grundlage für die künftige Entwicklung des Kantons bilden.
In ihrer neuen Studie haben die Ökonomen der Credit Suisse den Kanton Tessin unter die Lupe genommen und verschiedene Aspekte der regionalen Wirtschaft beleuchtet, darunter beispielsweise die Entwicklung von Branchen, Unternehmen und Beschäftigung, die Faktoren der Wohnortattraktivität, das demografische Wachstum und den Immobilienmarkt. Die in der Studie enthaltenen Analysen erstrecken sich auch auf die einzelnen Regionen des Tessins. Zudem wird erstmals auch die benachbarte Graubündner Region Misox betrachtet.
Wirtschaft erholt sich von schweren Zeiten
Das Tessin hat schwierige Jahre hinter sich. Über das letzte Jahrzehnt haben mehrere Faktoren wie die Aufhebung des Euro-Mindestkurses, die De-facto-Abschaffung des Bankgeheimnisses, die Zweitwohnungsinitiative und jüngst die Coronavirus-Pandemie die wirtschaftliche Entwicklung des Kantons belastet. Dies führte zu einem Rückgang bei Wirtschaftstätigkeit und Beschäftigung, insbesondere im Finanzsektor, im Handel und in weiten Teilen der Industrie. Andere Bereiche wie das Gesundheits- und Bildungswesen, Unternehmensdienstleistungen, Grosshandel, Transport und Logistik, Informations- und Telekommunikationstechnologie sowie auch die Pharmazeutik und Medizintechnik konnten dagegen wichtige Zuwächse verzeichnen. Die ausgeprägte Diversifizierung der Tessiner Wirtschaft hat sich wie schon in der Vergangenheit als vorteilhaft erwiesen, um diese schwierige Phase zu überwinden und eine Neuordnung der wirtschaftlichen Struktur einzuleiten.
Verbesserte Erreichbarkeit dank NEAT
Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen hat der verbesserte Zugang entlang der Nord-Süd-Achse durch die Fertigstellung der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) zu einer Annäherung des Tessins an die Zentren jenseits des Gotthards geführt, auch wenn bei der internationalen Anbindung weiter Handlungsbedarf besteht. Die dank des Ceneri-Basistunnels erreichten Fortschritte bei der Mobilität innerhalb des Kantons bildeten die Grundlage dafür, dass die Region Bellinzona im Ranking zur Standortqualität neun Plätze gutmachen konnte. Sie liegt allerdings wie etwa auch die Regionen Locarno, Tre Valli und Misox weiterhin unter dem Schweizer Durchschnitt, während die Regionen des Sottoceneri, Lugano und Mendrisio, Bewertungen im Schweizer Mittel erreichen. Was die steuerliche Attraktivität betrifft, ist der Kanton für natürliche Personen günstig positioniert. Die steuerliche Belastung für Unternehmen liegt dagegen über dem Durchschnitt. In den letzten Jahren, die infolge der Unternehmenssteuerreform (STAF) von starken Veränderungen geprägt waren, hat sich die relative Position des Tessins verschlechtert, wobei es zu den Kantonen mit der höchsten Steuerlast gehört. Nach einer ersten Massnahme, die seit 2020 in Kraft ist, sieht die kantonale Steuerstrategie indes eine weitere Senkung des kantonalen Gewinnsteuersatzes bis 2025 von derzeit 8 % auf 5,5 % vor. Der Kanton schöpft zudem die Möglichkeiten der mit der STAF eingeführten Steuerinstrumente umfassend aus und bleibt im internationalen Vergleich attraktiv.
Struktureller Wandel: Fokus auf Bereichen mit hoher Wertschöpfung
Innerhalb der Tessiner Wirtschaftsstruktur lässt sich eine Verlagerung auf Bereiche beobachten, die eine hohe Wertschöpfung aufweisen. Diese Verlagerung bringt neue Spezialisierungen mit sich, beispielsweise in der Pharmazeutik, in der Medizintechnik und im Life-Sciences-Bereich, nicht zuletzt gestützt durch die Einrichtung der biomedizinischen Fakultät der Università della Svizzera Italiana und eines entsprechenden Forschungszentrums in Bellinzona. Auch in anderen Hightech-Segmenten wie bei Drohnen oder Blockchain-Technologie schreitet die Entwicklung voran. Die Fortschritte des Kantons in puncto Innovationsfähigkeit und die Produktivitätssteigerung in den letzten Jahren (+ 4,9 % zwischen 2011 und 2019) spiegeln diesen strukturellen Wandel wider. Mit einer Bruttowertschöpfung pro Beschäftigten von CHF 157’800 liegt die Produktivität im Tessin jedoch weiter unter dem landesweiten Durchschnitt von CHF 170’800.
Arbeitskräftemangel: Tessin vorerst weniger betroffen
Mitte des Jahres 2021 befand sich die Beschäftigung im Tessin wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 2,4 % derzeit unter den Werten von 2019. Im Gegensatz zu anderen Regionen des Landes erreichte die Anzahl der offenen Stellen indes kein Rekordniveau. Die Tessiner Unternehmen haben derzeit weniger Schwierigkeiten, neue Mitarbeitende zu finden. Der Zugang zu Arbeitskräften aus dem Grenzgebiet erweist sich in dieser Hinsicht als Vorteil. Mittelfristig könnten sich die Dinge jedoch ändern. Im Rahmen des neuen Grenzgängerabkommens zwischen der Schweiz und Italien, das noch vom italienischen Parlament gebilligt werden muss, dürfte das Tessin für italienische Arbeitnehmer künftig steuerlich weniger attraktiv sein. Hinzu kommt, dass im Laufe dieses Jahrzehnts die Zahl der Babyboomer, die das Renteneintrittsalter erreichen, zunehmen wird. Nach unseren Schätzungen treten im Tessin bereits jetzt nicht genügend junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein, um den Austritt derer auszugleichen, die in Rente gehen. In diesem Punkt geht der Kanton der landesweiten Entwicklung voraus.
Schwache demografische Dynamik und alternde Bevölkerung
Das Tessin ist einer der Kantone mit dem höchsten Grad der demografischen Alterung in der Schweiz. Gemessen am Alterslastquotienten ist der Kanton südlich der Alpen sogar die Region mit der ältesten Bevölkerung der Schweiz. Darüber hinaus hat sich die demografische Dynamik im Kanton Tessin seit Beginn des Jahrtausends nach und nach abgeschwächt. Ab dem Jahr 2017 wurden sogar negative Wachstumsraten verzeichnet. Bereits seit 2012 weist das Tessin einen negativen natürlichen Saldo auf – d. h. mehr Todesfälle als Geburten. Diese demografische Zäsur in der Mitte des vergangenen Jahrzehnts liegt vor allem in der stark zurückgegangenen Zuwanderung begründet, insbesondere mit Blick auf die Migrationsströme auf internationaler Ebene. Der demografische Rückgang ist jedoch nicht zwingend ein unumkehrbares Phänomen. Vorläufige Daten für 2021 zeigen eine Erholung des Bevölkerungswachstums dank des verstärkten Zuzugs von Migranten aus dem Ausland, aber zum ersten Mal seit Langem auch aus dem Rest des Landes. Die Tatsache, dass die Pandemie unsere Lebens- und Arbeitsgewohnheiten verändert und den Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort verstärkt hat, könnte dem Kanton in diesem Zusammenhang zugutekommen.
Leben im Tessin aus finanzieller Sicht lohnenswert
Neben der Attraktivität der Landschaft, die sich im ausgeprägten Fokus auf den Tourismus manifestiert, positioniert sich das Tessin auch als finanziell günstige Wohnregion. Dies zeigt unsere Analyse des frei verfügbaren Einkommens, die den zum Konsum oder Sparen frei verfügbaren Betrag des Einkommens nach Abzug obligatorischer Abgaben und Fixkosten misst. In der Rangliste der Kantone liegt das Tessin auf dem zehnten Platz und ist für Familien zusätzlich attraktiv, da der Kanton mit die kostengünstigsten Einrichtungen des Landes zur Kinderbetreuung bietet. Bei diesen Haushalten sind nur die Kantone Genf, Neuenburg und Wallis attraktiver. Das frei verfügbare Einkommen variiert auch von Gemeinde zu Gemeinde, zum Teil sogar deutlich. Für die Haushalte eröffnen sich damit Möglichkeiten zur Optimierung ihres Wohnorts, was durch die Verbreitung von Telearbeit und die damit einhergehende Reduktion der Pendlerbewegungen noch weiter verstärkt wurde. Dies spiegelt sich in der zunehmenden Binnenmigration von den Zentren in die Ballungsräume und den ländlichen Raum wider, wo die Wohnkosten geringer sind. Davon haben in den letzten Jahren vor allem die Regionen Bellinzona und Misox profitiert. Deutlich schwächer fiel dagegen die demografische Dynamik in den Regionen Locarno, Lugano und Mendrisio aus.
Immobilien: weniger Nachfrage nach Wohneigentum, sinkender Leerstand bei Mietwohnungen
Die steigenden Hypothekenzinsen machen sich mittlerweile auch im Tessiner Immobilienmarkt bemerkbar. Daten zu Abonnementen für Online-Suchportale lassen nach dem pandemiebedingt deutlichen Anstieg nun ein nachlassendes Interesse an Wohneigentum erkennen. Im ersten Halbjahr dieses Jahres ist auch die Zahl der Immobilientransaktionen zurückgegangen (-19 % bei Eigentumswohnungen, +1 % bei Einfamilienhäusern). Die Tatsache, dass die Bautätigkeit bei Wohneigentum seit Jahren rückläufig ist, hat bislang die Preisentwicklung in der Schweiz gestützt. Mit einem Anstieg von 5,9 % im zweiten Quartal dieses Jahres liegt die Preisdynamik im Tessin jedoch unter dem nationalen Durchschnitt von 8 %. In den kommenden Quartalen dürfte sich die Preisentwicklung spürbar verlangsamen. Auf dem Mietmarkt hat sich die Trendwende hin zu sinkendem Leerstand, die sich im vergangenen Jahr in der gesamten Schweiz beobachten liess, inzwischen auch im Tessin vollzogen. Davon haben vor allem die Regionen Locarno und Bellinzona und, nach Wohnungstyp, grössere Wohnungen profitiert. Mit 5% ist die Leerwohnungsziffer im Kanton insgesamt jedoch nach wie vor sehr hoch.
Die Studie «Der Kanton Tessin – Perspektiven regionaler Wirtschaftsräume» ist auf Deutsch und Italienisch abrufbar unter: credit-suisse.com/regionalstudien (Credit Suisse/mc/ps)