“How to beat Russia – What armed forces in NATO should learn from Ukraine’s homeland defense”. Drei Experten zeigen in dieser Studie auf, wie die Ukrainer nicht nur Russland das Fürchten, sondern auch die NATO das Kämpfen lehren. Die Lernbereitschaft ist bei uns im Westen aber sehr selektiv, was sich auch in dieser hier diskutierten Studie zeigt.
Von Dr. Fritz Kälin
Die NATO-Länder sind nicht nur wichtige Unterstützer für die Ukraine. Die im Februar 2023 erschienene Studie “How to beat Russia” des Think Tank «GLOBESEC» listet zehn Bereiche auf, in denen das US-geführte Militärbündnis von der Ukraine lernen sollte, wie seine Mitgliedsländer sich mit Aussicht auf Erfolg (selber!) verteidigen können: Totale Verteidigung; Daten sind Wissen sind Macht; Dezentralisierte Führungsnetzwerke; das Gefechtsfeld gestalten; Drohnen, Drohnen, Drohnen; Jagdkampf; Artillerie; Eisenbahnlogistik; Operational Security; Strategische Informationskriegführung. Bevor wir zwei dieser zehn Bereiche näher betrachten, ein kurzer historischer Rückblick:
«Lehren» setzen Lernbereitschaft voraus
Ein ausgewiesener US-amerikanischer Kenner des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes, Dr. Phillip Karber, warnte bereits seit 2014, dass in der Ukraine Kampfverfahren das Gefechtsfeld beherrschen, über die man im westlichen Militärdiskurs nur noch verächtlich die Nase rümpfte. Karber bemängelte vor allem die unzureichenden Artilleriemunitionsvorräte der NATO (u.a. in Vorträgen im Jahr 2015 und 2016 (hier ab Minute 7)). Auch ich darf mich zu denjenigen zählen, welche viele der in der GLOBESEC-Studie gezogenen Lehren schon vor Jahren aus den Erfahrungen der Donbasskämpfe 2014/2015 extrapolierten. Diese im Westen jahrelang ignorierten Lehren sind eine Ursache, weshalb die Ukraine zu wenig von der militärischen Hilfe erhält, die sie am dringendsten braucht.
Landesverteidigung geht alle an
Als ersten Faktor, weshalb die Ukraine Russlands Grossinvasion standgehalten hat, nennen die Studienautoren die «Totalverteidigung». Darunter wird verstanden, dass nicht nur die Armee, sondern alle Ressourcen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zur Verteidigung des eigenen Landes vorbereitet sind. In dieser Disziplin setzte die Schweiz mit ihrer «Gesamtverteidigung» bis in die 1990er-Jahre Weltmassstäbe. In den meisten europäischen Staaten wurden die Voraussetzungen für eine Totalvereidigung in den vergangenen Jahrzehnten demontiert. Ihre inzwischen ‘professionalisierten’ Streitkräfte eignen sich zwar für globale Militäreinsätze, nicht aber zur Verteidigung des eigenen Staatsgebietes. Je näher die NATO-Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) an Russland angrenzen, desto mehr Vorbereitungen haben sie spätestens seit 2014 für ihre Totalverteidigung getroffen. Vorbereitungen, die auch zum Schutz vor nichtmilitärischen Bedrohungen beitragen, beispielsweise Versorgungsengpässe, Katastrophenschutz oder Informationskrieg.
Noch immer selektiver Blick auf die zerstörerische Rolle des Artilleriefeuers
Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Streitkräfte sind «Artilleriearmeen» mit einer grossen Anzahl Panzern. Wie schon die sowjetrussische Armee, aus der sie hervorgegangen sind. Die Artillerie verursacht mit Abstand am meisten Verluste – und wo ihr Feuer keine tödliche oder vernichtende Wirkung hat, zwingt sie den Gegner mindestens in Deckung, was der eigenen Seite mehr Bewegungsfreiheit gibt. Artilleriefeuer ist umso letaler, je rascher und präziser es zur Wirkung gebracht wird. Drohnen und die rasche Zieldatenübermittlung sind noch wichtiger als das Baujahr des Geschützes oder die Art der verfügbaren Munition. Teure Präzisionsmunition erlaubt zwar die Bekämpfung wertvoller Punktziele (z.B. Führungseinrichtungen, Brücken etc.) aus grosser Distanz mit minimalem Kollateralschaden. Ein gegnerischer Panzerverband ist aber kein «Punktziel», sondern ein «Flächenziel». Nicht umsonst bitten die Ukrainer zu deren Bekämpfung um Streumunition. Auf eine Abwägung, ob Blindgänger eigener Streumunition, oder von einem Invasor eroberte Gebiete das grössere Übel sind, will man sich im Westen weiterhin nicht einlassen. Ist bei Flächenzielen das Umpflügen von Geländestreifen mit altmodischen Stahlgranaten wirklich die humanere Alternative?
Die von der Studie verschwiegene «Geheimwaffe» im «modernen» Krieg
Wenn Artillerie tödlicher denn je ist, wird auch der Schutz vor ihrem Feuer wichtiger. Bereits seit Ausbruch der Kämpfe im Donbass 2014 ist eine der unübersehbarsten Lehren die, dass kein Soldat ohne Spaten ins Kampfgebiet geschickt werden darf. Jede Stunde Graben erhöht die Chancen, gegnerisches Feuer zu überleben. Wieso die GLOBESEC-Studienautoren diese simple Lehre nicht erwähnen, ist nicht nachvollziehbar. Dabei wäre der krude Spaten eine «Waffe», die sich günstig und massenhaft für das «moderne» Gefechtsfeld herstellen lässt. Allerdings lässt sich damit nicht viel Geld verdienen. Der Spaten hat, im Gegensatz zu teurer Präzisionsmunition, Kampfflugzeugen und Panzerfahrzeugen, keine «Lobby».
Schweizer Politik und Medien seien deshalb aufgerufen, weniger darüber zu fachsimpeln, welche teuren Grosswaffensysteme zu beschaffen sind, und dafür mehr Druck auszuüben, dass unsere BürgerInnen in Uniform die Drohnen, Munitionstypen und Ausbildung im Stellungsbau erhalten, die sie für ihren legitimen Auftrag der Landesverteidigung benötigen. Wirklich gar nicht diskutabel ist, ob unsere rein defensive Milizarmee wertvolle Leopard 2 Kampfpanzer aus ihrer mageren strategischen Reserve an ein NATO-Land verkaufen soll, das einst 2000 (!) dieser Kampfpanzer im Bestand hatte und unter dem nuklearen Schutzschirm der USA steht.
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