Bern – Energieknappheit, Sicherheitspolitik, Inflation: Ein Jahr vor den Parlamentswahlen gibt es so viele Unsicherheiten wie noch selten. Thomas Widmer, Politologe an der Universität Zürich, zeigt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf, welches Szenario für welche Partei von Vorteil wäre – und weshalb er die Grünen im Nachteil sieht.
Eines nimmt Widmer vorneweg: «Von Wahltermin zu Wahltermin gibt es in der Schweiz geringfügige Veränderungen.» Deutliche Veränderungen würden in der Folgewahl oft korrigiert, sagt der Politikwissenschaftler und spricht die grüne Welle von 2019 an.
«Andere Sichtweise»
Ist diese also vorbei? Definitiv darauf zu antworten, wäre Widmer schlicht nicht möglich. Zu unsicher ist, was im Wahljahr auf die Politik zukommen und wie das die öffentliche Meinung beeinflussen wird.
Stichwort Energiepolitik im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt: «Es herrscht wegen des Krieges eine andere Sichtweise als noch vor einem Jahr.» Die Versorgungssicherheit sei wichtiger geworden als der Umweltschutz, sagt Widmer. Jüngstes Beispiel aus dem Ausland: Die britische Regierung hob das Fracking-Verbot wegen der Energiekrise auf.
«Es hängt davon ab, wie sich die weitere Lage entwickelt», diesen Satz sagt Widmer mehrfach im Gespräch. In Bezug auf die Energiepolitik legt er zwei Szenarien in die Waagschale: Es kommt zu einer weitflächigen Energielücke – oder nicht. «Wenn wir tatsächlich im Dunkeln sitzen und frieren, macht dies einen Unterschied.» Dann würde die Versorgungssicherheit zulasten von Umweltanliegen noch mehr an Bedeutung gewinnen.
Sicherheit und Wohlfahrt
Ein ähnliches Gedankenspiel stellt Widmer im Kontext des Ukraine-Krieges und der Sicherheitspolitik an. «Der Krieg stärkt die Position armeefreundlicher Kreise im bürgerlichen Lager», sagt er. Die Kritik an der Armee von links hat hingegen derzeit einen schweren Stand.
Doch profitieren könnte das linke Lager bei Unsicherheitsfaktoren mit sozialer Komponente: steigende Energiepreise, Krankenkassenprämien und die Teuerung. In diesen Themen liegen die Schwerpunkte der SP. Sollte sich die soziale Lage «dramatisieren», wie Widmer sagt, könnte die soziale Frage zu einem «Top-Thema» der Parlamentswahlen werden – was die linken Parteien stärken könnte.
Aufgrund dieser Überlegungen würde es Widmer nicht überraschen, wenn auf der linken Seite Stimmen von den Grünen an die SP gehen würden. Jene Stimmen, die 2019 von der SP zu den Grünen wechselten. «Das bedeutet aber keine Veränderung der Kräfteverteilung zwischen Links und Rechts.»
Zu einem ähnlichen Schluss kam eine im August durchgeführte Umfrage des Verlagshauses Tamedia und von «20 Minuten». Grosse Veränderungen sind ihr zufolge bei den Nationalratswahlen 2023 nicht zu erwarten. Die GLP und die FDP würden leicht zulegen. Die Grünen würden Wähleranteile einbüssen.
Kantonale Wahlen als Wegweiser?
Oft werden die kantonalen Wahlen als Vorboten der nationalen Wahlen verstanden. In der Romandie würde sich demzufolge ein anderes Bild als von der Umfrage prognostiziert abzeichnen: Die Grünen und in geringerem Ausmass die GLP haben in den letzten drei Jahren in der Westschweiz am stärksten zugelegt. Die grosse Verliererin war die SP.
Die kantonalen Wahlen in der Deutschschweiz entsprachen eher dem, was die Umfrage und Widmer vorhersagen. Eine Kräfteverschiebung erlebte in der Deutschschweiz 2022 nur das Bündner Parlament aufgrund eines neuen Wahlsystems. Grosse Gewinnerin war die SVP.
Die Regierung im Kanton Bern blieb bürgerlich. In Obwalden siegte die bürgerliche Mitte. Nidwalden wählte die GLP zulasten der FDP in die Regierung. In Glarus verlor die Mitte zugunsten der SVP, und die GLP musste einen Sitz an die Grünen abtreten. Und auch die Zuger Kantonsregierung bleibt bürgerlich.
«Es ist heikel, aufgrund kantonaler Wahlergebnisse Rückschlüsse auf die nationalen Wahlen zu ziehen», sagt der Politologe. Studien zeigten hierzu widersprüchliche Befunde. Nur eine Schlussfolgerung lässt Widmer zu: Weitere deutliche Zugewinne der Grünen sind unwahrscheinlich.
Noch schwieriger als für den Nationalrat seien Prognosen bei Ständeratswahlen. Die Persönlichkeit kommt in der kleinen Kammer vor dem Parteinamen. «Wir wissen derzeit ja noch nicht einmal, wer kandidieren wird», sagt Widmer.
Prognose für Bundesrat wäre Blick in Glaskugel
Die Besetzung des National- und Ständerats ist schliesslich ausschlaggebend für jene des Bundesrats. Der Präsident der GLP, Jürg Grossen, sagte kürzlich in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag», dass es Platz gebe für einen grünen und einen grünliberalen Bundesrat. Die Grünen hätten laut Grossen aufgrund ihres Wähleranteils Anspruch auf einen Sitz.
«Nicht alleine die Parteistärke verhilft zu einem Bundesratssitz. Die Unterstützung der anderen Parteien ist ebenfalls erforderlich», sagt Widmer dazu. Aktuell hätte die GLP einen schweren Stand, da sie im Ständerat nicht und in kantonalen Regierungen schwach vertreten sei Die Grünen hätten diesbezüglich aufgrund der längeren Parteigeschichte Vorteile.
Aussagen zur Bundesratswahl will Widmer frühestens machen, wenn die Parlamentswahlen vorbei sind. Mit den Unsicherheiten, die die National- und Ständeratswahlen begleiten, ist das nicht verwunderlich. (awp/mc/ps)