Kleidervorschriften gehören nicht in die Verfassung, genau so wenig wie Bauvorschriften (die 2009 mit 57.5% angenommene Initiative «Gegen den Bau von Minaretten»). Beides Resultate der politischen Bemühungen der Schweizerischen Volkspartei SVP («Egerkinger Komitee»). Und doch trifft die SVP hier einen wunden Punkt und findet Unterstützung über Partei- und Geschlechtergrenzen hinweg.
Von Helmuth Fuchs
Unabhängig davon, wie berechtigt oder unberechtigt das jeweilige Anliegen ist, verkommt die Verfassung mit jeder dieser Initiativen zu einer Deponie von Nichtigkeiten (die im ersten Anlauf gescheiterte Kuhhorn-Initiative lässt grüssen). Statt die grundlegenden Werte des Schweizer Volkes zu repräsentieren, ein Katalog der uns verbindet und der in Ansätzen zumindest einen Ewigkeitsanspruch haben sollte, wird sie so zum Sammelsurium eines kleinstgeistigen Bünzlitums.
Es erschliesst sich ein schwindelerregendes Gefälle vom «Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung…» zu den Niederungen von Gesichtsbekleidungs-Vorschriften.
Von bewundernswerter Grösse zu schrumpeliger Kleinheit
Der heutige Art. 10 Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit
1 Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten.
2 Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.
3 Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind verboten.
würde verunstaltet mit dem zusätzlichen Artikel 10a Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts
1 Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden; das Verbot gilt nicht für Sakralstätten.
2 Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen.
3 Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.
Kämpfer*innen der letzten Stunde für die Anliegen der islamischen Frauen
Um nicht im teilweise hart erkämpften Ruf der Fremdenfeindlichkeit oder Islamophobie zu verharren, haben die Initianten der SVP (darunter Ulrich Schlüer, Thomas Fuchs und Andreas Glarner) sorgsam darauf geachtet, dass die Initiative auch das Geschäft schweizerischer (in ihrer Auslegung vor allem linker) Randalierer und Vandalen oder Fussball-Hooligans massiv erschweren würde. Die Bildkulisse dazu liefert jährlich die 1. Mai-Demo in Zürich. Rechtlich wäre die Strafverfolgung der Randalierer heute schon kantonal möglich.
In einer bisher in dieser Partei kaum wahr genommenen Haltung machen sie sich mit der Initiative zu radikalen Feminist*innen und Kämpfer*innen gegen die Unterdrückung der islamischen Frauen in der Schweiz.
Das durchaus berechtigte Anliegen im Kern
Im Kern geht es, unabhängig von der Herkunft der Initiative, der deplatzierten Verankerung in der Verfassung oder der unbedeutenden Anzahl der betroffenen Frauen in der Schweiz, um den beunruhigenden Vormarsch eines fundamentalistischen Islams in der westlichen Gesellschaft. Eines der visuell sichtbarsten Attribute der reinen Männerherrschaft ist die vollkommene Verschleierung der Frau.
Wer glaubt, dass die Mehrheit der Frauen dies als Befreiung verstünde oder sich unter den Nikabs und Burkas gleichberechtigte Partnerinnen aufgeschlossnerer Männer befänden, sollte sich die Rolle der Frauen zum Beispiel im Iran und in Ägypten nach der Machtergreifung der religiösen Fundamentalisten zu Gemüte führen. Oder er spricht mit einer der vielen westlichen Frauen, welche in eine scheinbar liberale islamische Familie eingeheiratet hat und nach der Heirat sämtliche Rechte verlor. Und nein, die paar privilegierten Schweizer Konvertitinnen sind in diesem Zusammenhang nicht relevant.
«Die Vollverhüllung eines Menschen gehört nicht in eine Demokratie» Alice Schwarzer im Interview mit der NZZ am 5.2.2021
Wer fundamentale Entwicklungen in den Ansätzen stoppen und klar machen will, welche Werte in der Schweiz hoch gehalten, welche nicht toleriert werden sollen, findet hier eine Möglichkeit, dies zu artikulieren. Deshalb findet die Initiative auch Unterstützung (als auch Ablehnung) über alle Parteien und Geschlechter hinweg.
Enthüllungsgebot statt Verhüllungsverbot
Der Gegenvorschlag sieht ein eigenes Bundesgesetz zur Gesichtsverhüllung vor, welches nur noch das Enthüllen in bestimmten Situationen vorsieht und zudem den Kantonen wieder die Hoheit über die Anwendung geben würde (also anstatt ein Verhüllungsverbot ein Enthüllungsgebot). Den einen geht dies noch zu weit, den anderen viel zu wenig weit.
Was immer das Resultat der Abstimmung sein wird, im Alltag praktisch aller SchweizerInnen wird sich nach dem Abstimmungswochenende nichts verändern. Das Signal an Fundamentalisten in der islamischen Welt und an Frauen, die unter der Männerherrschaft in solchen Gesellschaften leiden wird aber mit Sicherheit vernommen werden.