Demonstrationen ritzen am Selbstverständnis eines jeden Machtapparates und das ist gut so. Vor allem Jugendliche, die für ihre Ideale und Visionen einer besseren Zukunft, die dereinst ihre Verantwortung sein wird, einstehen, haben unsere Unterstützung verdient. Kritisch ist dabei je länger desto mehr nicht die zu erwartende Rechtsverletzung durch eine fehlende Genehmigung der OrganisatorInnen, sondern die Reaktion der verantwortlichen Behörden auf solche Vergehen.
Kommentar von Helmuth Fuchs
Jugendliche benötigen einen eigenen Spielraum, um zu rebellieren, grösser zu denken, befreiter zu handeln als ihre Vorgänger. Das wissen alle Eltern und es ist eine der Zutaten für die Weiterentwicklung von Gesellschaften. Dazu gehört auch, dass sie ihren Ideen in nicht-konformen Aktionen Ausdruck verleihen, wie eben einer unbewilligten Demonstration auf dem Bundesplatz in Bern während der parlamentarischen Session. Das sorgt für genügend mediale Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Den OrganisatorInnen waren die Folgen der illegalen Demonstration offensichtlich bewusst, sie rechneten mit der Räumung durch die Polizei, kalkulierten diese sogar als medial aufmerksamkeitssteigernden Aspekt mit ein. So weit so bekannt auch aus früheren Aktionen, die oft zu Teilerfolgen, Verzögerungen oder sogar Abbrüchen von Projekten führten.
Zur Sicherheit gehört auch die Rechtssicherheit
Was überrascht und irritiert ist die Reaktion der Behörden unter Leitung des Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (Grüne). Statt sich an das bekannte Drehbuch zu halten mit einer zügigen Räumung des Platzes, der am zweiten Tag der Demonstration für den wöchentlichen Markt benötigt worden wäre, eierte dieser herum, suchte das Gespräch mit den OrganisatorInnen, gewährte Aufschub und Fristen, bot einen anderen Platz an, obschon sehr schnell klar war, dass die DemonstrantInnen «im Zentrum der Macht» ihre Anliegen öffentlich machen wollten. Im Nachhinein beschrieb er das Vorgehen als «den Berner Weg». Der Nationalrat beschloss noch am Montag auf einen Ordnungsantrag von Thomas Aeschi (SVP) einzugehen, dass der Bundesplatz geräumt werden müsse.
Es wurde überdeutlich klar, wie viel Sympathien Alec von Graffenried für die Anliegen der Jugendlichen (und solcher, die sich auch jenseits der 30 noch dafür halten) hatte, bevor er das Camp am Mittwochmorgen räumen liess. Und hierin liegt das Problem: Behörden und Vertreter des Staates werden gewählt, um die staatlichen Interessen zu schützen. Dazu gehört vor allem die Sicherheit und darin enthalten die Rechtssicherheit.
Das eigene Weltbild über das Recht stellen?
Wenn nun Behörden und wie geschehen in Zürich Polizisten sich mit Anliegen von Demonstrierenden solidarisieren, obschon deren Kundgebungen nicht bewilligt wurden, verlassen wir den Rechtsstaat und werden zum Gesinnungsstaat. Dort entscheidet das eigene Weltbild darüber, wo bestehendes Recht angewendet wird und wo es ohne Folgen gebrochen werden kann. Nicht mehr durch die Gesellschaft vereinbarte Regeln gelten, sondern die Meinung derjenigen, welche über die Gewalt zur Durchsetzung der Regeln verfügen. Vor einem persönlichen ethischen Dilemma schützen wir diejenigen, welche zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung angestellt und mit besonderen Mitteln ausgestattet sind, durch klare Gesetze. An diesen können und müssen sie sich orientieren, zum eigenen und zum Schutz der Gesellschaft.
Immer häufiger ignorieren Politiker und Beamte jedoch das Recht und orientieren sich dafür an ihrem eigenen Werten, um unliebsame Demonstrationen zu verhindern und solche, die ihren Vorstellungen entsprechen, bevorzugt zu behandeln. In Zürich verweigerte das Sicherheitsdepartement der Stadt unter der Leitung von Karin Rykart Abtreibungsgegnern für ihren «Marsch fürs Läbe» die Bewilligung mit der Begründung, dass die Stadt die Sicherheit der DemonstrantInnen nicht gewährleisten könne. Auch nachdem die OrganisatorInnen gegen die Entscheidung vor Verwaltungsgericht klagten und Recht bekamen, verweigerte Rykart die Bewilligung immer noch. Dies im krassen Gegensatz zur Frauendemo, die am 7. März ohne Bewilligung, trotz Corona-Versammlungsverbot und mit gütiger Duldung und Begleitung der Polizei stattfand. Oder den jährlichen 1. Mai Demonstrations- und Zerstörungszügen, bei welchen die Sicherheit offensichtlich über Jahre hinweg nie gewährleistet werden konnte.
Es wird also bewilligt, was politisch genehm ist, verhindert, was unpassend scheint, bestraft, wessen Ansichten nicht ins eigene Weltbild passen, gütig behandelt, wer den eigenen Überzeugungen nahe steht.
All das passt sehr gut zu Rechts- und Regierungsformen, in denen Günstlingswirtschaft an der Tagesordnung ist, wo Familien, Herrschaftshäuser oder Religionsführer das Sagen haben. In der Schweiz sollten wir uns aber vehement mit den uns zu Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln wehren und Vertreter wählen, die nicht der eigenen Hybris erliegen, sondern die Aufgaben wahrnehmen, für die sie gewählt wurden.
Kontraproduktiv für die Anliegen der DemonstrantInnen
Wie sich jetzt auch in Bern gezeigt hat, ist die bevorzugte Behandlung im Resultat sogar für das Anliegen der DemonstrantInnen schädlich. Statt die berechtigten Anliegen stehen jetzt die politischen Reaktionen auf die Demonstration im Vordergrund. Parlamentarier verlieren vor laufenden Kameras die Nerven, fluchen, als wären sie tags zuvor erst von ihren einsamen Alpwirtschaften in weit entlegenen Tälern nach Bern gezogen (Jacqueline Badran wenigstens in lupenreinem fucking english).
«Statt über die berechtigten Inhalte der Aktivisten zu reden, befinden wir uns in einer Empörungshysterie, aus der wir fast nicht mehr rauskommen.» SP-Nationalrätin Mattea Meyer, Tagesanzeiger 23.09.2020
Die politischen Gräben werden durch solche Vorgehen nach persönlichem Gusto statt gesetzlichen Vorgaben vertieft in einer Zeit, in der nur ein gemeinsames Ringen um Lösungen der Sache dienlich wäre. Die Jugendlichen verlieren sich in wenig zielführenden Aktionen, statt sich politisch einzubringen und ihren Stimmen durch legale Aktionen, an Abstimmungen und Wahlen das nötige Gewicht zu geben. Nicht zuletzt, weil sie glauben, bestärkt durch Amtsträger wie von Graffenried und Rykart, dass Gesinnung Recht ersetzen könne.
In unserer direkten Demokratie sollten solche Haltungen keinen Platz haben, auch wenn die Umsetzung nötiger Schritte oft verzögert wird durch Instanzen und Vorschriften. Alle anderen Staatsformen, in denen die Umsetzung schneller wäre und nur von der Vorliebe der Machthaber abhinge, haben zu schwerwiegende Nachteile für die Freiheit der Einzelnen und der Gesellschaft. So bleibt das vermehrte Engagement der Jugendlichen in politischen Prozessen, ein intensiverer Diskurs über Parteigrenzen hinweg, eine ehrlichere Auseinandersetzung aller Beteiligten und Betroffenen innerhalb der gesetzlichen Grenzen und die Umsetzung der Gesetze durch die gewählten Volksvertreter.