Wahlen 2019: Was auf das neue Parlament zukommt
Bern – Europa, Altersvorsorge, Gesundheitskosten: Bei einigen Themen hat das Parlament in der vergangenen Legislatur keine tragfähigen Lösungen gefunden. Ob die neuen Kräfteverhältnisse im einen oder anderen Dossier einen Durchbruch ermöglichen, muss sich erst noch zeigen.
Europa
Um die Europapolitik ist es still geworden in den letzten Monaten. Das hat mit den Wahlen in der Schweiz zu tun und mit der Neubesetzung der EU-Kommission. Das Thema dürfte nun bald wieder weit oben auf der politischen Tagesordnung stehen. Letzter Stand: Im Juni entschied der Bundesrat, das institutionelle Abkommen vorläufig nicht zu unterzeichnen. Er verlangt von der EU «Klärungen» in den Bereichen Lohnschutz, Unionsbürgerrichtline und staatliche Beihilfen. Die EU versagte der Schweizer Börsenregulierung daraufhin die Anerkennung, im Gegenzug trödelt das Parlament bei der Kohäsionsmilliarde. Einer Lösung kommt man dadurch nicht näher: Die EU verlangt weiterhin einen institutionellen Rahmen für die bilateralen Beziehungen. Sie setzt die Schweiz unter Druck, indem bis zum Abschluss eines entsprechenden Abkommens weder neue bilaterale Verträge geschlossen noch bestehende erneuert werden. Verschärft wird das Problem durch die Begrenzungsinitiative der SVP, die derzeit beim Ständerat hängig ist.
Altersvorsorge
Zu den grossen Fehlschlägen der letzten Legislatur gehört das Scheitern der Reform der Altersvorsorge. Inzwischen gibt es sowohl für die erste als auch für die zweite Säule neue Projekte. Der Bundesrat hat dem Parlament eine AHV-Reform vorgelegt, mit der das Frauenrentenalter auf 65 Jahre erhöht würde. Eine Übergangsgeneration soll von Ausgleichsmassnahmen profitieren. Die AHV-Finanzen sollen mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer stabilisiert werden. Einen Zustupf von 2 Milliarden Franken erhält die AHV bereits wegen der im Mai 2019 angenommenen AHV-Steuervorlage. Für eine Reform der beruflichen Vorsorge arbeitet der Bundesrat derzeit eine Vernehmlassungsvorlage aus. Basis ist ein Kompromiss der Sozialpartner, der einen tieferen Umwandlungssatz vorsieht. Gleichzeitig sind Verbesserungen für Frauen und tiefe Einkommen sowie ein Rentenzuschlag für eine Übergangsgeneration vorgesehen. Beide Projekte sind hoch umstritten.
Klima
Im alten Nationalrat war das CO2-Gesetz gescheitert. Der neue, ökologischere Nationalrat dürfte dem Ständerat folgen und die Massnahmen gutheissen. Dazu gehören eine Flugticketabgabe, höhere Aufschläge auf den Benzinpreis sowie Massnahmen gegen Ölheizungen. Geht es nach dem Ständerat, soll ab 2023 ein CO2-Grenzwert gelten, wenn die Heizung ersetzt werden muss. Das käme für viele Bauten einem Ölheizungsverbot gleich. Hausbesitzer könnten nur noch dann eine neue Ölheizung einbauen, wenn das Haus gut isoliert ist. Das Parlament dürfte ein Gesetz verabschieden, mit welchem die Anforderungen des Klimaabkommens von Paris zu erfüllen sind. Mit Blick auf das Ziel einer CO2-neutralen Schweiz bis 2050 werden jedoch weitere Massnahmen nötig sein.
Strom
Die Energiestrategie 2050 gehörte zu den wichtigsten Dossiers der vergangenen Legislatur. Das alte Parlament hat damit die Weichen gestellt für den Ausbau erneuerbarer Energien. Deren Förderung ist jedoch befristet. Das neue Parlament muss entscheiden, was danach kommen soll. Der Bundesrat will die Förderung weiterführen, aber mit marktnäheren Massnahmen. So sollen die Einmalvergütungen für grosse Photovoltaik-Anlagen ausgeschrieben werden. Vor kurzem eröffnete der Bundesrat die Vernehmlassung dazu. Er will ausserdem den Strommarkt vollständig öffnen. Auch Haushalte sollen künftig ihren Stromlieferanten wählen können.
Gesundheitskosten
Die Gesundheitskosten sind ein Dauerbrenner in der Bundespolitik. Kein Parlament hat bisher den Prämienanstieg in den Griff gekriegt. Nun hat der Bundesrat ein Massnahmenpaket vorgelegt, mit dem mehrere hundert Millionen Franken gespart werden sollen. Geplant sind unter anderem ein Referenzpreissystem für Generika und eine nationale Tariforganisation. Ein zweites Bündel von Massnahmen ist bereits in Vorbereitung. Fortgeschritten ist die Diskussion über neue Regeln für die Zulassung von Ärztinnen und Ärzten. Auch in der neuen Legislatur wird zudem die Aufhebung des Vertragszwangs wieder aufs Tapet kommen. Mit der Schwächung des rechtsbürgerlichen Blocks ist ein Systemwechsel jedoch eher unwahrscheinlicher geworden.
Gesundheitswesen
Um Fehlanreize zu vermeiden, sollen ambulante und stationäre Leistungen aus einer Hand bezahlt werden. Das hat der Nationalrat beschlossen. Heute teilen sich Krankenkassen und Kantone die Kosten stationärer Behandlungen, für ambulante Leistungen kommen die Versicherungen alleine auf. Künftig sollen die Krankenkassen alles bezahlen, die Kantone würden aber einen Anteil der Gesamtkosten decken. Die Vorlage ist hoch umstritten. Vor allem die Kantone wehren sich dagegen – unter anderem, weil die Langzeitpflege ausgeklammert bleibt. Sie drohen mit dem Kantonsreferendum. Als nächstes ist der Ständerat am Zug, der dafür mehr Sensibilität aufbringen dürfte als der Nationalrat.
Unternehmenssteuern
Die Reform der Unternehmensbesteuerung war Dauerthema in der vergangenen Legislatur. Ein erster Anlauf scheiterte an der Urne. Das Parlament nahm anschliessend Anpassungen vor und integrierte eine Finanzspritze für die AHV in die Vorlage. Das Stimmvolk zeigte sich einverstanden, doch das Thema hat sich damit nicht erübrigt. Die OECD strebt neue Regeln zur Besteuerung multinationaler Konzerne an. Grosse multinationale Unternehmen sollen künftig nicht mehr nur dort Steuern zahlen, wo sie einen Sitz haben. Einen Teil der Steuern sollen sie in den Absatzländern zahlen – dort, wo sie Konsum und Umsatz generieren. Der Schweiz drohen Steuerausfälle – ein Thema, welches das neue Parlament stark beschäftigen dürfte.
Kampfjets
Der Ständerat hat bereits Ja gesagt zum Kauf neuer Kampfjets für 6 Milliarden Franken. Nun ist der Nationalrat am Zug. Für die Beschaffung selber dürfte es im Parlament eine solide Mehrheit geben. Umstritten ist, welchen Anteil des Vertragsvolumens ausländische Lieferanten durch Gegengeschäfte in der Schweiz kompensieren müssen. Das letzte Wort hat das Volk. Lehnt es den Kampfjet-Kauf ab, muss das neue Parlament in der Sicherheitspolitik grundsätzlich über die Bücher. Ebenfalls in die neue Legislatur fällt der Kauf neuer Fliegerabwehrraketen sowie die Neuausrichtung der Bodentruppen. Diese Frage stellt sich, weil viele schwere Waffensysteme in absehbarer Zeit das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen.
Ehe
Das Parlament ist nicht nur grüner geworden. Gestärkt wurden – zumindest im Nationalrat – auch die progressiven Kräfte in gesellschaftlichen Fragen. Damit dürfte die Ehe für homosexuelle Paare geöffnet werden, inklusive Zugang zur Adoption. Umstritten ist, ob verheiratete Frauen Zugang zur Samenspende erhalten sollen. Offen ist auch, wie es mit der Abschaffung der Heiratsstrafe weitergeht. Der neue Vorschlag des Bundesrats droht zu scheitern. Möglich wäre, dass im neuen Parlament die Individualbesteuerung zur Option wird. Findet das Parlament nicht rasch eine Lösung, mit der auch die CVP einverstanden ist, droht allerdings die Wiederholung der Abstimmung über deren Initiative. Ein Ja könnte die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare verhindern, da der Initiativtext eine Definition der Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau enthält.
Landwirtschaft
In der Landwirtschaftspolitik steht die nächste grosse Reform an. Im Frühjahr 2020 will der Bundesrat dem Parlament die Botschaft zur Agrarpolitik ab 2022 (AP22+) vorlegen. Diese soll den Bauern mehr unternehmerische Freiheit geben, ihnen aber gleichzeitig neue Vorgaben im Betrieb und beim Umweltschutz machen. In Sachen Umwelt sind Bundesrat und Parlament unter Druck. Das Anliegen der Trinkwasser-Initiative, nur noch umweltfreundlich wirtschaftende Bauern zu subventionieren, geniesst viel Sympathie. Der Bundesrat will dem Volksbegehren mit neuen Umweltvorschriften in der AP22+ den Wind aus den Segeln nehmen. Gleichzeitig setzen neue Freihandelsabkommen die Landwirtschaft unter Druck. Mit den Mercosur-Staaten ist eine Einigung in Reichweite. Mit diesem Abkommen wird sich das neue Parlament ebenfalls befassen müssen.
Terrorismus
Fragen der Sicherheit werden auch in der neuen Legislatur ein Thema bleiben. Das Parlament hat zu entscheiden, ob Behörden im Umgang mit terroristischen Gefährdern mehr Möglichkeiten erhalten. Der Bundesrat schlägt unter anderem Hausarrest vor. Die neuen Massnahmen sollen zum einen dann greifen, wenn die Hinweise zur Eröffnung eines Strafverfahrens nicht ausreichen. Zum anderen sollen sie den Behörden ermöglichen, jemanden nach der Entlassung aus dem Gefängnis weiterhin unter Kontrolle zu haben. Im Verteidigungsdepartement wird ausserdem geprüft, ob der Nachrichtendienst künftig auch bei gewalttätigem Extremismus Massnahmen wie das Abhören von Telefongesprächen ergreifen darf.
Asyl
Die Asylreform mit der Beschleunigung der Verfahren ist beschlossen, nun geht es um die Umsetzung, allenfalls um kleinere Anpassungen. Die Asyl- und Migrationspolitik dürfte aber auch das neue Parlament beschäftigen. Da die SVP und die FDP im Nationalrat über keine Mehrheit mehr verfügen, könnten es parlamentarische Vorstösse für Verschärfungen schwerer haben. Weil die bürgerlichen Kräfte immer noch in der Mehrheit sind, ist aber auch nicht mit Lockerungen zu rechnen. Konkret wird das neue Parlament etwa darüber entscheiden, ob vorläufig aufgenommenen Personen Auslandsreisen verboten werden. Weiter wird es über den Uno-Migrationspakt befinden, wie das alte Parlament es verlangt hatte.
Konzernverantwortung
In alter Zusammensetzung haben sich National- und Ständerat nicht auf einen indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative einigen können. Der Entscheid liegt nun beim neuen Parlament. Zur Debatte steht, ob Schweizer Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden von Tochtergesellschaften im Ausland haften sollen oder nicht. Ein Teil der bürgerlichen Kräfte möchte einen Gegenvorschlag ohne Haftungsregeln. Beschliesst das Parlament keinen Gegenvorschlag, will der Bundesrat eine Vorlage ohne Haftungsregeln erarbeiten. Gesetzlich verankert würde lediglich eine Pflicht für Unternehmen, über Nachhaltigkeit und die Achtung von Menschenrechten und Umweltschutz. Den Initianten geht das zu wenig weit.
Raumplanung
In der kleinen Schweiz ist Raumplanung eine ewige Baustelle. Die letzte Revision des Raumplanungsgesetzes war noch nicht umgesetzt, da gleiste der Bundesrat schon die nächste auf. Mit dieser soll der Spielraum für das Bauen ausserhalb von Bauzonen erweitert werden. Das fordern insbesondere die von der Zweitwohnungs-Initiative betroffenen Bergkantone, die leerstehende Maiensässe, Ställe und Scheunen umnutzen möchten. Die Bedingungen, die der Bundesrat daran knüpfen will, kommen jedoch nicht gut an. In der Nationalratskommission ist die Vorlage abgestürzt. Diese will nun eigene Vorschläge ausarbeiten. Parallel dazu ist die Umsetzung der Revision von 2014 im Gang. Einige Kantone müssen ihre Bauzonen verkleinern, andere haben innert Frist keinen neuen Richtplan vorgelegt und wurden vom Bundesrat mit einem Baustopp belegt. (awp/mc/pg)