Wirtschaftsstandort Genf: Ende von Merck-Serono-Zentrale als Warnschuss
Wirtschaftsstandort Genf.
Genf – Mit der Ankündigung, seine Firmenzentrale in Genf zu schliessen, hat das Pharmaunternehmen Merck Serono im vergangenen Jahr eine Schockwelle ausgelöst. Die Warnsignale für den Wirtschaftsstandort Genf mehren sich. Dem unerwarteten Schritt des deutschen Chemiekonzerns Merck fünf Jahre nach der Übernahme des Schweizer Biotechunternehmens Serono fallen in Genf 1250 Arbeitsplätze zum Opfer. Nie zuvor waren im Westschweizer Kanton so viele Personen auf einmal entlassen worden.
Die Massenentlassung bei Merck Serono wurde zuerst als Einzelfall betrachtet. Der zunehmende Kostendruck in der Pharmabranche aufgrund der wachsenden globalen Konkurrenz wurde als Begründung herangezogen. Doch auch andere Wirtschaftszweige, die in Genf stark vertreten sind, haben im vergangenen Jahr Federn gelassen. Dazu gehören der Finanzplatz, die multinationalen Konzerne und internationalen Organisationen, die Exportindustrie, die Hotellerie sowie der Handelssektor.
Das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Kantons Genfs schrumpfte im zweiten Quartal 2012 um 0,1%, um im dritten Quartal wieder um 0,6% zu wachsen. Obwohl damit eine Rezession vermieden werden konnte, beurteilte das kantonale Statistikamt die Perspektiven für sämtliche Branchen als negativ. Eine Ausnahme bildete das Baugewerbe.
Einkaufstourismus und starker Franken
Der Anteil des Genfer Bankensektors am kantonalen BIP ist geschrumpft und mit ihm die Zahl der Angestellten sowie die Boni-Zahlungen. Die Gesamtheit der ausbezahlten Reallöhne schrumpfte im zweiten Quartal 2012 um 0,9%, im dritten um 1,7%. Der Handel leidet unter dem Einkaufstourismus, der im Grenzkanton Genf besonders stark ist. Die Hotellerie und die Gastronomie ächzen unter dem starken Franken. Dasselbe gilt für die Exportindustrie. Dank der Ausfuhr von Uhren, Schmuck und Chemieprodukten in den Absatzmarkt Asien konnte sich die Branche allerdings stabil halten.
Der Handelssektor, der in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewann und in der Region 8000 Arbeitsplätze umfasst, befindet sich in einer Konsolidierungsphase.
Verlust von Branchenmesse
Der Personalbestand der zahlreichen in Genf ansässigen internationalen Organisationen hat sich nicht verändert. Dafür haben sich deren Ausgaben verringert. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 2011 in Genf 350 von 2400 Stellen abgebaut hatte, schlug ihren Mitgliedsstaaten im November vor, ihre Beiträge künftig in Schweizer Franken statt in US-Dollar zu bezahlen. Mit dieser Massnahme soll das Budget-Defizit bekämpft werden.
Das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) wiederum setzte die Auslagerung von Teilen des Verwaltungspersonal an andere Standorte fort. Genf muss ausserdem den Verlust der Telekom-Branchenmesse Telecom verkraften, die bis 2011 ausschliesslich in der Calvinstadt durchgeführt worden war. 2012 fand die Messe in Dubai statt. In den Golfstaaten werden auf Kosten Genfs auch vermehrt UNO-Konferenzen abgehalten.
Kantonalbank vorsichtig optimistisch
Positiv entwickelte sich hingegen das Baugewerbe, das vom Bau der Eisenbahnstrecke CEVA ins benachbarte Frankreich und vom Bevölkerungswachstum profitierte. Die Genfer Kantonalbank zeigt sich mit Blick auf das neue Jahr vorsichtig optimistisch. Nach einem prognostizierten Anstieg des BIP im Jahr 2012 um 1,3% rechnet sie für 2013 mit einem Wachstum von 1,7%.
Trotzdem dürfte der Druck auf den Wirtschaftsstandort Genf in naher Zukunft hoch bleiben: Der Finanzplatz sieht sich mit Forderungen aus der Europäischen Union sowie den USA konfrontiert, den multinationalen Unternehmen wird vom Ausland unter anderem Steuervermeidung vorgeworfen.
An der Stellung Genfs als Hort internationaler Organisationen wird von aufstrebenden Konkurrenten gerüttelt. Hinzu kommt die angespannte Finanzlage des Kantons. (awp/mc/ps)