Zürich – Der Detailhändler der Zukunft definiert sich nicht mehr allein über Waren, sondern auch über Dienstleistungen und Informationen. Künstliche Intelligenz wird zahlreiche Routineaktivitäten wie Angebotsgestaltung, Preissetzung und Prognosen übernehmen, die Bedeutung der Filialen wird weiter abnehmen. Der Warenfluss wird auch in Zukunft Kern des Handels sein. Doch neben ihn treten als ebenso wichtige Determinanten die Information und das Wissen über die Kunden.
Diese nahen Zukunftsszenarien beschreibt der aktuelle Branchenreport «Retail Journal» der internationalen Managementberatung Oliver Wyman. Nordal Cavadini, Handelsexperte bei Oliver Wyman in Zürich: «Der technologische und gesellschaftliche Wandel löst einen tiefgreifenden Wandel im Detailhandel aus. Er erfasst die Lieferketten, den gesamten Betrieb und wirkt sich damit direkt auf die Zukunftsaussichten der einzelnen Anbieter aus. Unternehmen sollten sich an die Spitze der Veränderungen setzen, ansonsten drohen sie gegenüber neuen Wettbewerbern mit disruptiven Geschäftsmodellen ins Hintertreffen zu geraten. Allerdings: Noch weiss niemand genau, wohin die Reise geht. Entsprechend sind strategisches Agieren und Agilität gefragt.»
Tektonische Verschiebungen auf drei Ebenen
Die neuen, auf der umfassenden Digitalisierung basierenden Geschäftsmodelle werden weitere spürbare Veränderungen auf drei zentralen Ebenen im Detailhandel nach sich ziehen:
Die Zentralen: Algorithmen und künstliche Intelligenz werden zahlreiche Routineaufgaben im Einkauf beziehungsweise Category Management, im Marketing und in der Steuerung der Lieferkette übernehmen. Sie kommen schneller zu besseren Antworten als menschliche Entscheider. Nur in definierten Ausnahmefällen ist hier noch menschliches Eingreifen erforderlich. Der Mitarbeitereinsatz kann in der Konsequenz mehr und mehr auf strategische Fragen und das Treiben von Innovationen ausgerichtet werden. Entsprechend steigen die Anforderungen an die Mitarbeiter. «Nicht alle kommen in einer traditionellen Industrie wie der Detailhandel mit einem solchen disruptiven Wandel zurecht», so Cavadini. «Der Kampf um die besten Talente wird nochmals deutlich an Intensität zunehmen.»
Die Filialen: Auch die Bedeutung der Filialen wird weiter abnehmen. Der Handel verändert sich fundamental von einem filialbasierten zu einem kundenbeziehungsbasierten Geschäft. Filialen sind nicht mehr nur ein Einkaufs-, sondern ein Begegnunsort und müssen entsprechend ausgerichtet werden. Hinzu kommen immer mehr Optionen für die letzte Meile vor allem in urbanen Regionen. Autonom fahrende Lieferwagen, die einem Kunden eine WhatsApp-Nachricht senden, dass sie vor der Tür stehen und die Einkäufe mittels Passwort aus einer Boxen entnommen werden können, werden in nicht allzu ferner Zukunft Realität sein.
Die Branchenstruktur: Um weiter mit Discountern bei den Preisen, mit Technologiegiganten bei Apps und Technologien rund um die Kundenschnittstelle und mit Geschäftsmodellen, die ganz neue Skaleneffekte auf der letzten Meile realisieren, konkurrieren zu können, wird sich der Handel in Europa durch Fusionen und Übernahmen weiter von einem nationalen hin zu einem internationalen Geschäft weiterentwickeln. Besonders im europäischen LEH wird das deutlich spürbar sein: In zehn bis fünfzehn Jahren wird es nur noch halb so viele der Anbieter mit im Kern filialbasierten Modellen geben.
Wissen nutzen, Kundenansprache und -dienste verbessern
Ein erster Schritt in Richtung Zukunft ist die Wandlung des Einzelhandels weg vom reinen Produktverkauf hin zu einem stärkeren Kundenfokus. Zukünftig kann nur erfolgreich sein, wer komplett differenzierte Sortimente anbieten kann, die auch wirklich nachgefragt werden, wer spürbare Kostenvorteile in der Supply Chain und damit deutlich niedrigere Verkaufspreise für die Kunden realisieren kann oder wer die Kundenschnittstelle beanspruchen kann, so der Branchenreport. «Oft trifft aber ein nur in Nuancen differenziertes Leistungsangebot auf durchschnittlich effiziente Beschaffungs- und Supply Chain-Kosten und eine recht gewöhnliche Kundenschnittstelle», sagt Handelsexperte Cavadini. «Umso bedrohlicher ist für diese Händler das Szenario, dass sich branchenfremde Anbieter mehr und mehr der Kundenschnittstelle bemächtigen und den etablierten Handel zu austauschbaren Warenversorgern degradieren.
Der Kampf um die Schnittstelle zum Kunden ist voll entbrannt. Es gilt, Kunden zu verstehen, Bedürfnisse zu befriedigen und die Nachfrage zu antizipieren. Dazu müssen die Detailhändler ihre Kunden noch viel besser kennenlernen als es bereits der Fall ist. «Die Daten der Händler sind dabei ihr grösster Schatz», sagt Cavadini. «Viele Detailhändler wissen, was Konsumenten tatsächlich tun – und zudem wann und wo. Sie hinken bei der Nutzung dieser Daten allerdings hinterher und drohen, die Kundenschnittstelle an Google, Amazon & Co zu verlieren. In manchen Non-Food-Sektoren ist das bereits weitestgehend passiert.» Als alternative Überlebensstrategie können sich etablierte Händler eine Nische als flexible, lokale Anbieter suchen und Kunden mit eben jenen Eigenschaften überzeugen, die den international agierenden Unternehmen fehlt.