GDI Gottlieb Duttweiler Institute: Wer bezahlt in der «Freeconomy»?

Die neuen Angebote schaffen eine neue Mentalität, «umsonst» ist das neue «Billig». «Gratis» ist eine Realität, auf die sich Anbieter einstellen müssen. Doch der Sprung von billig zu gratis kommt einer Revolution gleich: Selbst ein Preis von einem Rappen ist unendlich viel teurer, als gar nichts zu bezahlen. Wird nun alles gratis? Bedeutet «gratis» wirklich «kostenlos»? Und wer bezahlt in der «Freeconomy» am Ende die Rechnung? Denn dass es keinen «free lunch» gibt, wissen wir, seit amerikanische Saloons Ende des 19. Jahrhunderts unentgeltlich Mittagessen anboten, um so an mehr Gäste mehr Getränke verkaufen zu können.


Hochkarätige Experten räumen mit Missverständissen auf
An der «6th European Consumer Trend Conference» des GDI Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich räumten Mitte März hochkarätige Experten mit einer ganzen Reihe von Missverständnissen auf. An der Konferenz referierten David Bosshart, GDI; James Cherkoff, Collaborate Marketing; Christoph Keese, Axel Springer; Morten Lund, LundXY; Bre Pettis, MakerBot; Douglas Rushkoff, Autor; Andreas Schönenberger, Google Schweiz; Peter Wippermann, Trendbüro.


«Free» ist nicht gleich «free»
«Free» war somit schon Ende des 19.Jahrhunderts eine Art Köder, dessen Einnahmeverlust durch den Verkauf eines anderen Produkts kompensiert wurde. Diese Quersubvention stellt für den «Wired»-Chefredaktor Chris Anderson die erste von vier Arten von «gratis» dar. Sie wird heute zum Beispiel von Telekomfirmen eingesetzt, wenn sie ihren Abonnenten Mobiltelefone «verschenken». Bei einem zweiten Typ von «gratis», so Anderson in seinem Buch «Free: The Future of a Radical Price», trägt eine Drittpartei die Kosten; Gratiszeitungen oder Google folgen mit ihrer Werbefinanzierung diesem Modell. Chris Andersons dritte Kategorie heisst sodann «Freemium»: Kostenfreie Angebote (etwa Handy-Spiele oder Software) werden durch kostenpflichtige Premium-Varianten (Upgrades und Vollversionen) finanziert. Als viertes sieht Anderson schliesslich die nichtmonetäre Märkte: Wikipedia, Blogs oder die Geschenkwirtschaft.


«Gratis» ist somit nicht einfach «gratis». Aber auch Preise geraten in Bewegung, dynamische Preisgebungsmodelle gewinnen an Bedeutung ? «unpricing». In den Berliner Weinerei-Restaurants zum Beispiel bezahlen Kunden gemäss der «pay what you wish»-Philosophie so viel, wie sie für angemessen halten. Konsumenten sind gemäss David Bosshart sogar durchaus bereit, für das gleiche Produkt je nach Situation unterschiedlich viel zu bezahlen, solange ihnen ein Betrag gerechtfertigt erscheint ? «mental accounting» (in etwa «geistige Buchhaltung») heisst das beim US-Ökonomen Richard Thaler.


Eingeborene und Immigranten
Dass auch die viel diskutierte «Freiheit» verschiedenes bedeuten kann, zeigte in Rüschlikon Peter Wippermann vom Hamburger Trendbüro. Meinte der Begriff früher die Möglichkeit, in andere Länder zu reisen, so verstehe man darunter heute den Zugang zu interaktiven Medien. Dies ist indes nur einer der Aspekte, durch welchen sich Generationen unterscheiden. Wippermann stellte den heute maximal dreissigjährigen «digital natives», die mit Internet, Handy und Computern aufgewachsen sind, die Generation X und die Babyboomer gegenüber: die «digital immigrants», Leute wie der 50-jährige Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub, der vor kurzem sagte: «Ich habe das dumpfe Gefühl, im Internet tut sich was.» ? derweil Facebook mitgliedermässig bereits die weltweit viertgrösste «Nation» darstellt.


Jede dieser Generationen hat ihre Ziele (Selbstbehauptung, Selbstreflexion oder Selbstverbesserung) und Werthaltungen. Für die «immigrants» ist gemäss Peter Wippermann der Reichtum durch Produkte wichtig, derweil für «natives» Beziehungen mehr Bedeutung haben. «Immigrants» trennten Arbeits- und Freizeit und suchten Stabilität; «natives» lebten demgegenüber in einer Echtzeit und strebten vor allem nach Flexibilität. Es seien die «digital natives», welche die Spielregeln der Netzwerkönonomie bestimmen würden, währenddem die «immigrants» als Fremde in der zweiten Wirklichkeit des Flaschenhals des Fortschritts blieben.


Ich mach mir die Welt…
Bre Pettis ist ein typischer «digital native»: Sieben Tage pro Woche tüftelt der junge New Yorker mit seinen Freunden 16 Stunden täglich an Projekten herum, die er unentgetlich im Netz anbietet. An der «Consumer Trend Conference» des GDI präsentierte Pettis, der schon in «Time Magazine», der «New York Times» oder dem «Wall Street Journal» vorgestellt wurde, den Makerbot: eine Art 3D-Drucker ? für Pettis der Beginn der «Open-Source-Fabrikations-Revolution».


Der Makerbot fertigt Gegenstände, indem er sie aus Kunststoff durch eine haarfeine Düse Schicht für Schicht aufbaut. Als Baupläne dienen digitale Vorlagen: dreidimensionale Scans schon bestehender Objekte oder am Computer mittels CAD-Programmen gezeichnete Entwürfe. «Es ist so cool, aus digitalen Dingen physische zu machen», grinst der Erfinder.


Seit Verkaufsstart im März 2009 wurden rund tausend Makerbots zu je knapp tausend Dollar abgesetzt, und Pettis ist sicher, dass in Zukunft jeder ein solches Gerät haben wird. Das aber dürfte einige traditionelle Anbieter von Produkten ärgern. Zum einen kopiert der Makerbot nämlich auch problemlos Designobjekte ? ein hübsches Brillengestell zum Beispiel. Und zum anderen wird Gestalten weiter demokratisiert: Wer etwa einen neuen Flaschenöffner sucht, kann die Konstruktionsanleitung bei thingiverse.com gratis runterladen und vom Makerbot für ein paar Cents direkt «ausdrucken» lassen. «Es braucht keine Läden mehr», provozierte Pettis ? kein Wunder, stand das Publikum in Rüschlikon bei der Demonstration des Makerbot Schlange.


Open Source Marketing
«Digital natives» entwickeln neue Konsummuster. Comparison Shopping und Augmented Reality gehören zu ihrem Alltag, Data Mining und CRM von Amazon bis Google sind für viele selbstverständlich. Solche Menschen, die sich an Transparenz und Mitbestimmung gewohnt sind, müssen von Anbietern anders angesprochen werden. Wie, das erklärte an der GDI-Tagung der britische Medien- und Marketingexperte James Cherkoff.


Für ihn heisst das Schlüsselwort «Ko-Kreation». Erstens müssten Anbieter vor allem ihre Kunden gut aussehen lassen ? und nicht ihre Produkte. Die Kaugummimarke Bazooka habe das verstanden, als sie zu einem Gesangswettbewerb aufrief; rund tausend Beiträge seien auf Youtube eingereicht worden. Zweitens, so Cherkoff, müsse man Gelegenheiten schaffen, damit Kunden ihr Leben verbessern können ? so wie die Vermarkter der australischen Region Queensland, die «den besten Job der Welt» ausschrieben: sechs Monate lang die gut bezahlte Aufsicht über eine Trauminsel. 35?000 Bewerbungen gingen über Youtube ein, die Wahrnehmung online und in den klassischen Medien sei gigantisch gewesen. Und drittens rät James Cherkoff, den unnatürlichen Marketingslang aufzugeben zugunsten der Sprache des Zielpublikums.


$$PAGE$$


Unternehmer und Buchhalter
Morten Lund hat damit keine Probleme, er nahm in Rüschlikon kein Blatt vor den Mund ? viel gradliniger als dieser Däne kann man kaum reden. Berühmt wurde der Rebell als früher Investor in den Internet-Telefonie-Anbieter Skype, den Ebay 2005 für mehr als zwei Milliarden US-Dollar kaufte. Allerdings verlor der rastlose Querdenker, der zeitweise in achtzig Start-Ups gleichzeitig investiert hatte, sein ganzes Geld beim Konkurs der Gratiszeitung «Nyhedsavisen» ? was ihn indes nur noch glaubwürdiger macht: «Als richtiger Unternehmer ist man ganz drin oder gar nicht; hätte ich Angst, wäre ich Buchhalter geworden.»


Investieren sei keine Wissenschaft, sondern eine Kunst, bei der es in erster Linie um die Menschen gehe. Die guten Leute würden nicht an den Lohn denken ? «Visionen sind wichtiger als Geld». Lund reizen Kartelle und Technologie: So habe Skype mit wenigen Mitarbeitern mehr erreicht als zwanzig Jahre EU-Telecom-Regulierung. «Kartelle geben Rebellen einen Grund zu kämpfen», so der charismatische Verkäufer. Mit einem aktuellen Projekt, Tradeshift, hat er bereits das nächstes Ziel im Visier: den Austausch elektronischer Finanzdaten, ein Milliardengeschäft.


«Nyhedsavisen», Skype oder auch die Peer-to-peer-Software Kazaa ? wenige Investoren haben mehr Erfahrungen mit Gratis-Dienstleistungen als Lund. Dieser gibt sich enthusiastisch und sagt: «Die besten Sachen kosten (noch) nichts: Luft, Denken, Lächeln, Schlafen.» Gleichzeitig sagt er als Geschäftsmann aber auch, dass man mit Gratis lediglich Aufmerksamkeit schaffen und eine Kundenbasis aufbauen könne ? ein Geschäftsmodell sei das nicht. «Wer <gratis> wird, ohne seine Hausaufgaben gemacht zu haben, verdient kein Geld.»


Krampf der Titanen
Zeitungsverleger mussten dies besonders schmerzlich erfahren. «Die Gratis-Kultur war 1994 viel tiefer in unseren Köpfen als in denen der Kunden», bekannte auf dem Podium reuevoll Christoph Keese von der Axel-Springer-Konzernleitung. Heute versuchen die Verlage mühsam, mit Online-Abonnementen (und dereinst wohl auch mit Micropayments) zur Bezahlkultur zurückzukehren. Ausserdem will Keese von den Suchmaschinen Geld für die Benutzung der Kurzzusammenfassungen («Artikel-Teaser») kassieren können.


Keeses Gegenspieler in Rüschlikon, Noch-Google-Schweiz-Chef Andreas Schönenberger, hielt im ? wie auch Moderator Kurt Aeschbacher feststellte erstaunlich einmütigen ? «Streitgespräch» dagegen, seine Firma verletze keine Gesetze. Überhaupt zahle Google ihren Partnern jährlich Milliarden aus, unter anderem dank dem Werbeprogramm Adsense. Darauf Keese: «Wir können mit dem bisschen Geld von Adsense keine Qualitätsjournalisten bezahlen.» Gleichzeitig funktionierten die alten Finanzierungsmodelle nicht mehr.


Ein veraltetes Währungssystem
Wer also bezahlt? Das ist auch die Frage, die Douglas Rushkoff stellte. «Meine Arbeit ist nicht gratis. Sie kostet mich Zeit und Energie», so der berühmte amerikanische Dozent, Berater und Bestseller-Autor. «Wer behauptet denn, dass ich alles verschenken muss?» Die Gratis-Mentalität schaffe nichts Neues, sondern kopiere nur Bestehendes. Crowdsourcing habe mit Zusammenarbeit denn auch gar nichts zu tun, sei vielmehr eine Methode für Firmen, zu kostenloser Arbeit zu kommen. «Die Bienenstock-Mentalität einer pervertierten Linken führt zu einer Kultur des Kopierens», wetterte Rushkoff an die Adresse fundamentalistischer «Gratis»-Aktivisten. Deshalb sei in den vergangenen zwanzig Jahren auch keine spannende neue Musik entstanden. Wer als Künstler oder Journalist für seine Arbeit nicht bezahlt werde, brauche einen Brotjob und verkomme zwangsläufig zum Amateur. «Es geht nicht um <gratis vs. teuer>, sondern um <bezahlt vs. unbezahlt>.»


Die Ursache der Misere sieht Rushkoff in unserem veralteten Währungssystem. Es sei seit dem Spätmittelalter vor allem dafür perfektioniert worden, dass reiche Menschen durch Reichtum reich blieben. Das Zinswesen habe dazu geführt, dass nicht Produktivität zu Geld führe, sondern umgekehrt Geld zu Produktivität. Obwohl in früheren Zeiten viele lokale Währungen neben einander in kleinen Peer-to-peer-Wirtschaftssystemen existierten, täten wir heute so, als sei unser Geldsystem das einzig mögliche.


Dieses System, beruhe auf der Prämisse des Mangels. Was hingegen im Überfluss da sei, werde nicht bezahlt. Nun habe der Computer aber Überfluss geschaffen, indem er sowohl die Wertschöpfung, als auch den Austausch von Wert dezentralisierte. Allerdings, und darin liege das Grundmissverständnis, sei durch den Computer nur das Verteilen von Inhalten sehr billig geworden, nicht aber das Erschaffen.


Rushkoff fordert nun einerseits eine digitale Kultur, welche die Arbeit des Einzelnen wertschätze: «Stehlen ist schlecht!» Und andererseits brauche es neue Währungen, die der aktuellen Situation des Überflusses gerecht würden. Geld solle nicht mehr dazu dienen, Wert abzuziehen, sondern ihn zu tauschen. «Wer alternative digitale Währungen entwickelt, wird Geld verdienen», prophezeit Rushkoff. Selbst der legendäre frühere US-Notenbankchef Alan Greenspan rechne mit der Entstehung von Privatwährungen.


… so 2009!
Tatsächlich bestehen schon heute verschiedene alternative Bezahlsysteme. Tauschgeschäfte etwa umgehen Geld. Auch Nachbarschaftsdienste oder Freiwilligenarbeit in Gemeinschaften (z. B. gegenseitiges Kinderhüten unter Bekannten) beruht nicht auf einer Geldwirtschaft. Zudem haben zahlreiche Open-Source-Projekte bewiesen, dass die herrschende Geldwirtschaft nicht sakrosankt ist.


So ist der Entgelt für Linux-Programmierer und Wikipedia-Autoren bekanntlich nicht Geld, sondern Aufmerksamkeit, im besten Fall sogar Anerkennung. Und in Zukunft werden die eigenen Daten online möglicherweise das bedeutendste «Bezahlmittel» überhaupt sein. Denn während der «digital immigrant» seine Privatsphäre gemäss Wippermann noch krampfhaft zu hüten und verteidigen sucht, vermarkte sie der «native» bewusst: «Was gibst du mir, wenn ich dir mehr über mich mitteile?»


In der digitalen Ökonomie wird bereits verschiedentlich nicht mit «richtigem» Geld bezahlt: Die Linden-Dollars in Second Life, Farm Cash in Farm Ville oder Habbo Taler in Habbo Hotel ? ja selbst Nintendo Points oder gar Paypal sind alle parallele Bezahlsysteme. Und selbst in der «realen« Welt stellen Bonuspunkte aus Kunden-Clubs oder Vielfliegerprogrammen Alternativen zu traditionellen Währungen dar.


Gratis? Unter dem Strich wohl auch eine ? mitunter bewusst geschürte ? Begriffsverwirrung im Dreieck von 1. wenigen funktionierenden Geschäftsmodellen; 2. einigen wirklich freiwilligen Beiträgen; und 3. Diebstahl und Ausbeutung. Immerhin, mit stets kompetenteren Konsumenten dürfte vielleicht irgendwann auch der Ruf dieses Lockvogels langweilen. Elisabeth Murdoch, die Tochter des Medienmoguls Rupert, meinte jedenfalls vor kurzem schnippisch: «Gratis ist so 2009!»  (gdi/mc/ps)

Schreibe einen Kommentar