Ai Weiwei ohne Ai Weiwei in Winterthur
«Ai Weiwei – Interlacing» ist die erste grosse Ausstellung mit Fotografien und Videos von Ai Weiwei. Sie stellt den Kommunikator Ai Weiwei in den Vordergrund, den dokumentierenden, analysierenden, verflechtenden und u?ber viele Kanäle kommunizierenden Ku?nstler.
Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit fotografiert, vor allem aber seit seiner Ru?ckkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und u?ber Blogs und Twitter diskutiert.
Ai Weiwei; 3/17/04, Jinghua, China. © Ai Weiwei
Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem Documenta-Projekt Fairytale, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ai Weiwei ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Ku?nstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptku?nstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewku?nstler und politischer Aktivist ein Seismograph fu?r aktuelle Themen und gesellschaftliche Probleme: ein grosser Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben fu?hrt.
Ai Weiwei; Study of Perspective – Tiananmen (Perspektivische Studie – Platz des himmlischen Friedens), 1995-2003. © Ai Weiwei
Ai Weiwei wurde 1957 als Sohn des Dichters Ai Qing geboren. Nach einem Studium an der Beijing Film Academy gru?ndete er 1978 mit anderen zusammen das Ku?nstlerkollektiv The Stars, das sich gegen den sozialistischen Realismus auflehnte und sich fu?r die ku?nstlerische Individualität und das Experimentelle in der Kunst einsetzte. 1981 ging Ai Weiwei in die USA, 1983 nach New York, wo er an der Parsons School of Design beim Maler Sean Scully studierte. In New York entdeckte er Ku?nstler wie Allen Ginsberg, Jasper Johns, Andy Warhol und vor allem Marcel Duchamp. Duchamp ist wichtig fu?r ihn, weil er Kunst als Teil des Lebens begreift. Es entstanden erste Readymades und Tausende von Fotografien, die seinen Aufenthalt und den seiner chinesischen Ku?nstlerfreunde in New York dokumentieren.
Ai Weiwei; Study of Perspective – The Eiffel Tower (Perspektivische Studie – Der Eiffelturm), 1995-2003. © Ai Weiwei
Nachdem sein Vater erkrankte, kehrte Ai Weiwei 1993 nach Peking zuru?ck. 1997 begru?ndete er das China Art Archives & Warehouse (CAAW) mit und begann, sich auch mit Architektur auseinanderzusetzen. 1999 eröffnete Ai Weiwei ein eigenes Studio in Caochangdi, 2003 gru?ndete er das Architekturstudio FAKE Design. Im selben Jahr war er zusammen mit den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron massgeblich am Bau des Olympiastadions, des sogenannten Bird’s Nest, beteiligt, das nach seiner Fertigstellung zum neuen Wahrzeichen Pekings wurde. 2007 reisten 1001 Chinesen und Chinesinnen auf seine Veranlassung hin zur Documenta 12 nach Kassel (Fairytale). 2010 verwunderte er die Welt mit seinem grossen, aber formal minimal angelegten Teppich aus Millionen von Sonnenblumenkernen bestehend aus handbemaltem Porzellan in der Tate Modern.
Das Fotomuseum Winterthur bedauert, dass die Fertigstellung dieses Projektes mit der Verhaftung von Ai Weiwei zusammenfällt, die es aufs Äusserste missbilligt. Es ist in grosser Sorge um den Ku?nstler und wu?nscht, dass dieser grosse Denker, Gestalter und Kämpfer uns allen, besonders aber China, als widerständige öffentliche Stimme erhalten bleibt. Die Ausstellung und das Buch wurden in enger Zusammenarbeit mit Ai Weiwei entwickelt. Bei der Fertigstellung des Buches hingegen war er aus den genannten Gru?nden nicht beteiligt.
Ai Weiwei setzt sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander – mittels fotografischer Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden Vermessungen der Welt, seinen persönlichen Standortbestimmungen in Study of Perspective, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit (Teilungen und Neuzusammenfu?gungen von vorgefundenen Möbelstu?cken), um fu?r die Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien (nebst vielen anderen ku?nstlerischen Stellungnahmen).
Dieses erste grosse Ausstellungs- und Buchprojekt seiner Fotografie- und Videoarbeiten will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei, dieses «Interlacing» und «Networking» mit Hunderten seiner Fotografien, mit seinen Blogs und mit erläuternden Essays ins Zentrum ru?cken und thematisieren. Der Ku?nstler als Netzwerk, als Firma, als Aktivist, als politische Stimme, als soziales Gefäss, als Agent provocateur: Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre, herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um wach geru?ttelt zu werden, um den eigenen Starrsinn zu erkennen und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können.