Albertina: Arnulf Rainer – Retrospektive
Arnulf Rainer, Schlaf, 1973-74, Öl auf Fotografie auf Holz, Albertina, Wien.
Wien – Anlässlich seines 85. Geburtstages widmet die Albertina Arnulf Rainer, einem der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler der Gegenwart, eine umfangreiche Retrospektive. Die Präsentation ermöglicht einen Einblick in das beeindruckend breit gefächerte Œuvre mit Werken aus öffentlichen und privaten Sammlungen, die großteils noch nie, oder schon sehr lange nicht mehr, in Österreich ausgestellt waren.
Die ca. 150 Exponate umfassende Schau wird im Frühjahr 2015 auch im Frieder Burda Museum in Baden-Baden/Deutschland gezeigt. Der Fokus der Auswahl zielt darauf, Schlüsselstellen und richtungsweisende Schnittpunkte aufzuzeigen, die Koordinaten innerhalb Rainers bisheriger künstlerischer Entwicklung bilden. Sie stehen hierarchisch über einer chronologischen Abfolge, verbinden als Knotenpunkte die faszinierend reichhaltig vernetzten Facetten und kaleidoskopisch sich wandelnden künstlerischen Äußerungen von Arnulf Rainer. Sie veranschaulichen als zentrale Positionen die prinzipiell dialektische Grundhaltung des Künstlers. In sowie zwischen seinen Bildern entsteht eine intensive Zwiesprache zu Themen malerischer Qualitäten und grafischen Linienstrukturen, eröffnen sich künstlerische Dialoge über ein Ausloten von Fläche und Raum, Farbe und reduziertes Schwarz-Weiß, zwischen Fülle und Leere, Ruhe und Bewegung, Stille und Aufregung, zwischen Abstraktion und Figuration, entsteht ein Gedankenaustausch zwischen dem Eigenen und dem Beitrag von Anderen.
Kompromisslose Suche nach Ausdrucksmitteln
Entsprechend dieser dialektischen Konstante in Arnulf Rainers Schaffen stehen zu Beginn der Ausstellung die Vertikalisierungen und Zentralisationen der frühen 1950er-Jahre den zeitgleich entstandenen Proportionsstudien gegenüber. Die impulsiven, abstrakten Zeichnungen treffen auf mit Farben und Flächen experimentierende Werke. In dieser Zeit nach dem Ende des 2. Weltkriegs setzt sich der junge Arnulf Rainer mit verschiedenen Impulsen der europäischen Kunst intensiv, wenn oft nur kurzzeitig auseinander. In Österreich war der Nachholbedarf sich mit Expressionismus, Surrealismus, Automatismus und Konstruktivismus zu beschäftigen, sehr groß. Derselben dialektischen Spannung begegnet man in der Gegenüberstellung der farbigen Finger-, Hand- und Fußmalereien mit breitformatigen, figurativen Zeichnungen in Schwarz-Weiß aus den späten 60er Jahren. In den Jahren 1968/69 stellt Rainer seine Gesichtsmimik ins Zentrum seines künstlerischen Interesses. In öffentlich zugänglichen Fotoautomatenkabinen verzerrt er sein Gesicht zu Grimassen. Diese Fotos werden zum Ausgangspunkt genommen und in einem nächsten Schritt vergrößert, über-und bearbeitet. Die „Face Farces“ und „Body Poses“, die mit einem Fotografen im Atelier inszeniert wurden, stellen Rainers performativen Beitrag zur Aktionskunst dar und zeigen seinen völlig eigenständigen Umgang mit dem Medium Fotografie. Wie kaum ein anderer hat Arnulf Rainer in seiner kompromisslosen Suche nach Ausdrucksmitteln von Anfang an radikal neue Verfahrensweisen entwickelt. Rainer zählt damit seit den 1960er Jahren weltweit zu den einflussreichsten Künstlern der Nachkriegszeit, mit Gerhard Richter, Sigmar Polke und Georg Baselitz, Maria Lassnig und Bruce Nauman oder Yves Klein. Sie alle sind Einzelgänger, nicht das Haupt einer Bewegung wie Pop und Minimal Art oder Konzeptkunst.
Übermalungen
Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Übermalungen beziehungsweise Zumalungen, die der Künstler ab Mitte der 1950er-Jahre gestaltet und mit denen er international identifiziert wird. Der Künstler wollte damit zunächst eine tief empfundene Leere füllen. Die Kreuzform, die das Vertikale und das Horizontale vereint, wird die für ihn typische und kennzeichnende Malfläche. Diese Form transportiert zahlreiche inhaltliche Bedeutungen wie Tod, Mysterium und Transitorik. Und der Tod beschäftigt Arnulf Rainer seit Anfang seines künstlerischen Schaffens als großes inhaltliches Thema. In einer frühen Zeichnung und seiner Selbstinszenierung als Toter spiegelt er den Tod zunächst auf sich selbst. Er beginnt aber auch Totenmasken zu sammeln, die er später direkt übermalt beziehungsweise deren Fotografien überarbeitet. Als dialektische Antwort auf die Zumalungen entstehen ab Ende der 1990er-Jahre die farbigen, transparent irisierenden Schleierbilder. Frei auf den leeren, jeweiligen Malgrund aufgetragen, entwickeln sich komplexe Licht-und Farbräume. Auch bei den Überarbeitungen fokussiert Arnulf Rainer neue Vorlagen aus der Kunst- und Kulturgeschichte: Frauenköpfe, und -körper, Engel, Tiere, Pflanzen und Landschaften. Die jüngsten Arbeiten bestechen durch ihr differenziertes Kolorit, in dem Misch – und Lokalfarben magnethaft anziehende, luftdurchwehte Bildräume konstruieren. Mit der Präsentation in der Albertina wird einmal mehr die überragende Bedeutung von Arnulf Rainer für die Kunstgeschichte nach 1945 unterstrichen: weit über die Landesgrenzen Österreichs hinaus. Obwohl diese scheinbar so gegensätzlich sind wie Fotografie versus Malerei, meditative Übermalungen und die Sakralisierung des Kreuzes versus geradezu autistische „Face Farces“ und „Body Poses“, blinder, unterbewusster Automatismus versus penibel austarierte „Proportionsstudien“, stellt sich doch das Gesamtwerk Rainers als ein homogener Block dar, der davon handelt, was Kunst nach ihrem Ende noch zu sagen hat. (Albertina/mc/hfu)