Zürich – Am 9. Oktober 2021 nimmt das erweiterte Kunsthaus Zürich den Betrieb auf. Die von David Chipperfield Architects gestaltete Erweiterung macht das Ensemble zum grössten Kunstmuseum der Schweiz. Sowohl in den Bestandsbauten wie in der Erweiterung stösst das Publikum auf neue Werke aus der Sammlung des Kunsthauses, entdeckt bisher selten zu sehende private Kollektionen und erschliesst sich öffentliche Räume, die beeindrucken.
Das neue Kunsthaus bietet einen Mehrwert für Kunst und Publikum beiderseits des Heimplatzes. Mit der Erweiterung wurden die öffentlichen Flächen mehr als verdoppelt. Für die Kunst stehen 5000 m2 zusätzlich zur Verfügung und 330 m2 für Kunstvermittlung. Aus der eigenen Sammlung können nun mehr als 17 Prozent (bisher 10 Prozent) der Gemälde und Skulpturen gezeigt werden, dazu Film und Fotografie, Werke auf Papier und Installationen.
KUNST IM DYNAMISCHEN KONTEXT
Im Chipperfield-Bau steht die Kunst ab den 1960er-Jahren, ihr Bedeutungs- und Beziehungsreichtum im Mittelpunkt. Das kuratorische Konzept zeigt auf, welche parallelen Techniken innerhalb einzelner Epochen der Kunstproduktion bestehen und wie sich die Gattungen Malerei, Grafik, Skulptur, Fotografie und neue Medien zueinander verhalten.
Wichtige Impulse gehen von der Sammlung Looser aus – von Minimal Art, dem abstrakten Expressionismus und der Arte Povera. Darüber hinaus nehmen Galerien klassischen Formats Gemälde des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne auf. Als Fest der Farbe darf die Sammlung Merzbacher bezeichnet werden, deren jüngste Erwerbung mit Pipilotti Rists «Pixelwald» (2021) bis in die Gegenwart führt.
Künstlerisch-kuratorische Neuerung ist ein Digital Lab, ein physischer Raum, der digital gespiegelt wird. Dort werden Kunstwerke und Performances präsentiert, die sich mit dem virtuellen Raum beschäftigen oder ins Netz übertragen werden.
Neue, mittelgrosse Wechselausstellungsflächen regen zum wiederholten Besuch des Chipperfield-Baus an. Den Auftakt macht «Earth Beats. Naturbild im Wandel». Die Ausstellung verknüpft künstlerische Produktionen aus mehreren Jahrhunderten mit aktuellen Fragestellungen zum Klimaschutz und führt die Besucher durch die den Chipperfield- mit dem Moser-Bau verbindende Passage bis in einen «Gletscherraum» im Bestand.
FRANZÖSISCHER IMPRESSIONISMUS
Die traditionell starke Präsenz der französischen Malerei in der Schweiz erhält durch die räumliche und organisatorische Anbindung der Sammlung Emil Bührle unter dem Dach des Kunsthaus Zürich eine entscheidende Vertiefung im Bereich der Sammlung. Mit diesem publikumswirksamen Schwerpunkt rangiert Zürich in Europa nun direkt hinter Paris. Die von Emil Bührle (1890–1956) hinterlassenen weltbedeutenden impressionistischen Werke sind mit seiner Tätigkeit als Rüstungsindustrieller und mit der Zeitgeschichte eng verflochten, was Gegenstand einer ausführlichen Dokumentation ist. Sie ist Bestandteil des Rundgangs durch die Säle, in denen rund 170 Werke gezeigt werden, und vermittelt historischen Kontext zu Bührles Rolle als Industrieller, Mäzen und Sammler. Die Archive der Stiftung Sammlung E.G. Bührle und der Zürcher Kunstgesellschaft sind mit regelmässig wechselnden Präsentationen im Dokumentationsraum vertreten. Ein Audioguide verknüpft die Dokumentation mit der Ausstellung und behandelt neben kunsthistorischen Themen auch Fragen zur Provenienz bestimmter Werke. Angeboten sind ferner Führungen mit wechselnden Schwerpunkten, die Hintergrundwissen zur Entstehung der Sammlung vermitteln. Unabhängig vom Museumsbesuch kann ein Digitorial online zur Sammlung konsultiert werden, das die auf der Website der Sammlung Emil Bührle zugängliche detaillierte Information zu den Provenienzen der Werke ergänzt. Das gesamte digitalisierte Archiv der Sammlung Bührle und dasjenige der Zürcher Kunstgesellschaft steht Forschenden in der Kunsthaus-Bibliothek zur Benutzung offen. Eine gründliche Darstellung «Die Sammlung Emil Bührle. Geschichte, Gesamtkatalog und 70 Meisterwerke» (2021) von Lukas Gloor, langjähriger Direktor der Sammlung, stellt diese in den grösseren Zusammenhang der Kunstpflege der Moderne im 20. Jahrhundert. Damit sind für eine Beschäftigung mit der Sammlung Emil Bührle sowohl einfach zugängliche wie auch wissenschaftlich anspruchsvolle Voraussetzungen geschaffen.
PROGRAMMATISCHE ERWEITERUNG
Positionen seiner eigenen Sammlung im Kontext von politischen und ethischen Konflikten erläutert das Kunsthaus an den Erwerbungen aus der Sammlung Glaser – bei Gemälden von Edward Munch – und mit einer Arbeit zu Fluchtgut und Vertreibung des jungen Franzosen Raphaël Denis, «La Loi normale des erreurs: les transactions Göring-Rochlitz» (2021). Im Bestandsbau sind auch künstlerische Schwerpunkte verstärkt worden: die grösste Präsentation bedeutender Werke von Alberto Giacometti, zu sehen im Kontext von Zeitgenossen wie den Surrealisten und Plastikerinnen der Gegenwart wie Rebecca Warren. Die niederländische Malerei von Rembrandt über Rubens bis Ruisdael ist mit dem Zugang einer weiteren bedeutenden Privatsammlung, der Sammlung Knecht (Jan Brueghel d. Ä., Hendrick Avercamp, Adriaen Coorte u.a.) markant erweitert und neu arrangiert.
Über alle Gebäude verteilt, treffen die Besucherinnen und Besucher auf Interventionsflächen. Diese setzen Akzente zwischen Epochen und Gattungen – bieten Raum für die Werke von Künstlerinnen und Künstlern unserer Zeit, die auf tradierte kunstgeschichtliche Themen Bezug nehmen oder diese herausfordern. Wie beispielsweise die Künstler Kader Attia und Anna Boghiguian mit Beiträgen zum postkolonialen Diskurs, die in unmittelbarer Nachbarschaft von niederländischen «orientalischen» Werken positioniert sind, welche dadurch kritisch interpretiert werden können.
Mehr Platz bedeutet auch, den eurozentristischen Sammlungsauftrag erweitern und sich der Kunst anderer Kontinente öffnen zu können. Mit Werken der Künstlerinnen Teresa Margolles, Tracey Rose und Lungiswa Gqunta beispielsweise sind Südamerika und Afrika vertreten.
Werke auf Papier – Zeichnungen, Druckgrafik und Fotografie, die aus konservatorischen Gründen nicht dauerhaft ausgestellt werden können – erhalten jetzt einen eigenen Raum, in dem die Präsentationen regelmässig wechseln. Den Auftakt macht eine Accrochage zum Legat von Leonie Tobler mit Meistergrafik von Dürer über Rembrandt bis zu Manet und Gauguin.
Nachdem viele Werke der fragilen Dada-Sammlung digitalisiert werden konnten, finden Originale nun dauerhaft ihr Publikum. In einem eigenen Raum verdeutlichen Positionen von Hannah Höch, Hans Arp und anderen Zürichs Beitrag an die Avantgarde zwischen den Weltkriegen, die nach Berlin, New York und Paris expandierte.
NEUER DESIGNSTORE, OFFENER GARTEN, FESTSAAL ZUM MIETEN
Das neue Kunsthaus erweitert auch sein Angebot im Bereich der öffentlichen Nutzungen. Die imposante Halle – das Foyer Walter Haefner – sowie der Festsaal und die Ateliers der Kunstvermittlung können für private Veranstaltungen aller Formate gebucht werden.
Der Shop im Chipperfield-Bau präsentiert sich als Designstore. Im Angebot sind exklusive Produkte, kuratiert in Zusammenarbeit mit Zürcher Labels wie Qwstion (Taschen), dem Modedesigner Julian Zigerli (Foulards) und enSoie (Schmuck und Seife), oder Keramikvasen von Margrit Linck aus den 1930er-Jahren und innovative Lampen des Bündner Industrie-Designers Fabio Hendry. Diese und weitere Angebote aus dem Accessoire- und Wohnbereich ergänzen den auf Bücher und Reproduktionen zur Sammlung des Kunsthauses fokussierten klassischen Museumsshop im Moser-Bau, der zu den grossen wechselnden Ausstellungen jeweils Neuigkeiten präsentiert.
Der Garten zwischen der Erweiterung und der alten Kantonsschule ist mit Sitzgelegenheiten und einer Infrastruktur – dem Rondell – für Veranstaltungen ausgelegt. Umrandet von rund geschnittenen Buchenhecken und mit altem Baumbestand, ist er eine Oase der Ruhe und ein Gegenpol zum lebendigen Heimplatz zwischen den Kunsthaus-Bauten von David Chipperfield, den Gebrüdern Pfister und Karl Moser. Nach einem Entwurf der belgischen Landschaftsarchitekten Wirtz International gestaltet, kann der Garten auch ausserhalb der Öffnungszeiten des Museums genutzt werden. 2022 wird er anlässlich der Ausstellung «Niki de Saint Phalle» zum Ausstellungsort unter freiem Himmel.
Mit Plastiken von Dan Graham, Kader Attia, Pipilotti Rist, Auguste Rodin u.v.a.m., die das Kunsthaus umgeben, baut das Museum eine Brücke zu potenziellen neuen Besuchergruppen und fördert die Beschäftigung mit Kunst im öffentlichen Raum. In der neuen Kunsthaus-Bar, die von David Chipperfield Architects Berlin gestaltet und von den Szene-Gastronomen der Miteinander GmbH betrieben wird, empfängt Max Ernsts Fresko «Pétales et jardin de la nymphe Ancolie» (1934) die Gäste von morgens früh bis spät in die Nacht. Ein wunderbares «conversation piece» – geschaffen damals für die legendäre Zürcher Corso-Bar.
DAS GRÖSSTE KUNSTMUSEUM DER SCHWEIZ
Dank des ausserordentlichen Engagements der Zürcher Kunstgesellschaft konnte fast die Hälfte der Baukosten in Höhe von CHF 206 Mio. von privater Seite finanziert werden. Den anderen Teil steuerten die Stadt und der Kanton Zürich bei. Das Budget des Kunsthauses steigt von CHF 20 Mio. im Jahr 2019 auf CHF 25,1 Mio. im Jahr 2022.
Aufgrund dieser baulichen und programmatischen Erweiterung rechnet die Zürcher Kunstgesellschaft ab dem Jahr 2022 mit einem Anstieg der Besuchszahlen auf 375’000 pro Jahr. Ziel ist, den traditionellen Eigenfinanzierungsgrad von über 50 Prozent auch im erweiterten Kunsthaus zu halten. 2023 wird Direktor Christoph Becker, der das Kunsthaus seit Juli 2000 führt und mit der Realisierung der Erweiterung die ihm aufgetragene Mission erfolgreich erfüllt hat, von Ann Demeester abgelöst.
CHRONIK VON DER IDEE ÜBER DIE FORM ZUM INHALT
Die Idee für ein erweitertes Kunsthaus wurde 2001 erstmals öffentlich diskutiert. 2008 fand der Architekturwettbewerb statt. Drei Jahre nach der Volksabstimmung über den Objektkredit und einem Rekurs gegen die Baubewilligung, konnte 2015 mit dem Bau begonnen werden. Bauherrin war die Einfache Gesellschaft Kunsthaus-Erweiterung, bestehend aus Zürcher Kunstgesellschaft, Stadt Zürich und Stiftung Zürcher Kunsthaus. Nach einer Bauzeit von fünf Jahren waren der Chipperfield-Bau und dessen Anbindung an den Bestand im Winter 2020 fertiggestellt. Im bestehenden Gebäude fanden während des laufenden Betriebs erste Umbauten und Neuhängungen statt: Fingerzeige auf das beiderseits des Heimplatzes geltende neue kuratorische Konzept der Vernetzung von Epochen und mit dem Publikum. Während einer Testöffnung im Frühjahr 2021 konnte das Publikum die pure Architektur des Chipperfield-Baus besichtigen, begleitet von einer Klanginstallation von William Forsythe. Über den Sommer zog die Kunst ein.
TAGE DER OFFENEN TÜR
Am Samstag und Sonntag 9./10. Oktober 2021 lädt die Bauherrschaft die Öffentlichkeit von 10 bis 18 Uhr zur kostenlosen Besichtigung des ganzen Ensembles, beiderseits des Heimplatzes ein. Hauptattraktion ist die komplett neu arrangierte Sammlung – mit Schätzen, die aus dem Depot ans Licht gekommen sind, neuen Erwerbungen, Schenkungen und den nun dauerhaft öffentlich zugänglichen privaten Sammlungen.
Die zwei Tage der offenen Tür werden unterstützt von der öffentlich-privaten Bauherrschaft und der Credit Suisse – Partner Kunsthaus Zürich. (Kunsthaus Zürich/mc/ps)