Unter den Schweizer Pässen ist er der eigentliche Jungspund. In 75 Jahren haben sich aber genügend Geschichte und Geschichten angesammelt. Von Dolomitengefühlen, dramatischen Übergängen bis zu schwindelerregenden Gletschersichten hat der Sustenpass alles zu bieten.
Von Helmuth Fuchs
Den Sustenpass gibt es in drei Auflagen: Als mittelalterlichen Säumerweg, als «Communicationsstrasse» und als Militär-, Tourismus und Wirtschaftsförderungs-Projekt in der heutigen Form.
Gemäss dem urschweizerischen Motto «wer zahlt, befiehlt» machte die Berner Regierung klare Vorgaben für die zweite Auflage, bei welcher zwischen 1811 und 1817 der Säumerweg ausgebaut wurde: 8 Bernerfuss Breite (2.35 Meter) mit einer maximalen Steigung von 2 Zoll pro Bernerfuss (16.5 %). Tauglich für leichte Fuhrwerke und Saumrosse mit schweren Ladungen (150–200 Kilogramm), sowie im Winter für Schlitten bis zur rauhesten Jahreszeit fahrbar. Noch heute sieht man die eindrücklichen Dammkonstruktionen, Trockenmauern und Wasserdurchlässe. Der Sturz Napoleons 1818 änderte die militärische Bedeutung grundlegend, was dazu führte, dass das letzte Teilstück oberhalb von Wassen auf der Urnerseite erst 1913 fertig gestellt wurde.
Die letzte und heutige Version wurde zwischen 1938 und 1945 erbaut und hatte verschiedene Ziele: Eine strategisch wichtige militärische Verbindung zwischen Uri und Bern, eine touristische Attraktion für die Zukunft und ein Wirtschaftsförderprogramm für die Bergbevölkerung.
An der Tour de Suisse von 1948 kam es auf der Etappe von Thun nach Altdorf zu einem tragischen Unfall. Der 33-jährige Belgier Richard Depoorter stürzte im Tunnel im Fedenwald oberhalb von Wassen und wurde im dunklen Tunnel von einem Begleitfahrzeug überfahren.
Für die Anfahrt mit unserem Steyr 10S21 wähle ich die Urnerseite. Von Wassen führen einige Kurven und eine steile Kehre ins Meiental. Die nächsten 12 Kilometer geht es kontinuierlich steigend von 900 auf 1’900 Meter über Meereshöhe, bevor man in zwei weiteren Spitzkehren und durch den Scheiteltunnel auf die Passhöhe (2’224 Meter über Meer) gelangt. Der Pass liegt direkt auf der Grenze zwischen den Kantonen Uri und Bern. Das Meiental durchfahre ich dieses Mal trotz seiner beschaulichen Schönheit ohne Halt, da es schon spät am Abend ist und der Reiz des Tales sich erst mit genügend Zeit erschliesst.
Die Nacht verbringe ich auf der Passhöhe, die aktuell eine auch nachts betriebsame Baustelle ist, da der Scheiteltunnel saniert wird.
Am nächsten Morgen mache ich mich mit dem Rennrad daran, eine der abwechslungsreichsten alpinen Radstrecken zu geniessen, den Sustenpass vom bernischen Innertkirchen her. Also zuerst einmal 28 Kilometer und 1’600 Höhenmeter in der Morgenfrische nach unten, um danach dasselbe in der Gegenrichtung anzugehen. Von Innertkirchen im Haslital geht es sowohl zum Grimsel-, als auch zum Sustenpass. Umgeben von imposanten und teilweise bedrohlich wirkenden Felszacken strahlt die Gegend dennoch eine gemütliche Geborgenheit aus.
Diese verstärkt sich zusehends, nachdem sich hinter Hopflauenen das Tal öffnet und sich links die an die Dolomiten erinnernden Wände mit dem Tällistock und dem über 3’000 Meter hohen Gross Wendenstock erheben. Diese Kulisse begleitet die Reisenden von nun an aus verschiedenen Perspektiven bis zu den letzten Kehren des Sustenpasses hinauf über die nächsten tausend Höhenmeter.
Der Sustenpass wurde bewusst im Hinblick auf seinen touristischen Wert mit einer gekonnten Theatralik angelegt und vorbildlich in die Landschaft eingepasst. Kehren, Stützwände und Tunnels wurden mit lokalem Granit erbaut oder eingekleidet, natürliche Stufen, geschickt genutzt. Die Radfahrer wissen zu schätzen, dass die Steigungen mit maximal 9% angelegt sind und so die 28 Kilometer nicht nur zur Qual, sondern auch zu einem unvergesslichen Genuss inmitten der hochalpinen Kulisse werden.
Hinter Gadmen führen einige Serpentinen und Tunnels dann in die Arena des Steingletschers, umgeben von Stucklistock, Fleckistock und dem 3’503 Meter hohen Sustenhorn. Nach dem Talboden von Innertkirchen und dem Gadmental ist dies die dritte Szenerie, welche gleichzeitig die Klammer und den Höhepunkt dieser Tour bildet. In den Kehren zum Sustenpass bleibt der Ausblick zu den Felswänden im Gadmental im Westen und den eisbedeckten Gipfel rund um das Sustenhorn im Norden der ständige Begleiter.
Die Nacht verbringe ich an einem Platz, der die ganze Schönheit dieser Gegend vor der Kabinentür ausbreitet. Mit der Dämmerung kehrt eine durch nichts gestörte Ruhe am Sustenpass ein.
Es sind Momente, Stunden, Tage wie die Zeit am Sustenpass, welche die Sehnsucht wecken und am Leben erhalten, statt Dinge Erinnerungen und Erlebnisse zu sammeln, diese zu teilen und aufzurufen, die Geschichte so fortzuschreiben, dass diese Schönheiten auch für kommende Generationen erlebbar bleiben.