«Der Tod kommt immer zu früh.»
Text: Cornelia Niggli
Die Furcht vor dem Sterben kennen viele, aber was, wenn die Angst vor dem Leben noch grösser ist? Ein Gespräch mit dem Ethiker und Theologen Georg Pfleiderer über Sterben in der Moderne, Scham und was Jesus am Kreuz damit zu tun hat.
Warum fürchtet der Mensch den Tod?
«Es gehört zum Menschsein dazu, dass wir den Tod antizipieren können», sagt Georg Pfleiderer. Der Mensch besitzt im Gegensatz zu anderen Lebewesen das Bewusstsein, dass sein Leben endlich ist. Die damit verbundenen Ängste sind komplex. Einerseits existiert die Angst vor einem leidvollen Sterben. Andererseits gibt es die Angst vor dem definitiven Ende, vor dem Nicht-mehr-Leben, dem Nichts. «Diese Angst ist eng verknüpft mit der Bedeutung, die wir Gütern in unserem Leben beimessen. Darunter fallen nicht nur materielle Dinge, sondern beispielsweise auch Ideale, nach denen wir leben, und soziale Aspekte wie zwischenmenschliche Beziehungen oder der Zugang zu Bildung. Der Verlust von solchen Gütern weckt meist Ängste», ergänzt der Ethiker.
Diese Angst vor dem Tod sei ein allgemeinmenschliches Phänomen, das sich aber in der Moderne besonders akzentuiert, weiss Pfleiderer und stützt sich dabei auf Reflexionen des deutschen Soziologen Max Weber (1864 –1920): «So wie wir heute leben, gibt es in unserer westlichen Welt kaum noch Güter, die von grösserer Bedeutung sind als das eigene Leben und Erleben. Die Welt verändert sich ständig. Wir haben dadurch die Möglichkeit, immer wieder Neues zu erleben. So gesehen, kommt der Tod immer zu früh.»
«So wie wir heute leben, gibt es in unserer westlichen Welt kaum noch Güter, die von grösserer Bedeutung sind als das eigene Leben und Erleben.»
Georg Pfleiderer
Fomo (fear of missing out), die Angst, etwas zu verpassen, treibt den modernen und erst recht den postmodernen Menschen an und um. Die Lebenssättigung, also ein Gefühl der abschliessenden Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, wie man sie aus antiken und biblischen Erzählungen kennt, so war Weber überzeugt, tritt nicht mehr ein.
Ist der Tod in der modernen Welt zum Tabuthema geworden?
«Der Tod wird nicht totgeschwiegen», reagiert Pfleiderer auf die Frage. «Wir reden heute vermutlich mehr über Sterben und Tod als jemals zuvor, zumindest in der medialen Öffentlichkeit. Früher war es selbstverständlich, dass man über vieles gar nicht gesprochen hat. Heute scheint es keine Tabus mehr zu geben.»
In den Nachrichten und im Film ist der Tod omnipräsent. Organisierte Sterbehilfe ist in der Schweizer Bevölkerung breit akzeptiert. Am 15. Mai 2022 stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über eine Volksinitiative ab, die bei Organspenden eine Widerspruchs- statt einer Zustimmungslösung fordert. «Dennoch ist es natürlich eine andere Form der Betroffenheit, ob man über etwas öffentlich diskutiert oder ob man es selber erlebt», ergänzt der Theologe. «Als Phänomene der Alltagserfahrung sind Sterben und Tod für die meisten heutigen im Westen lebenden Menschen viel seltener geworden als für frühere Generationen.»
Für Menschen mit dieser Lebensrealität ist das eigene Leben oft das höchste Gut. Trotzdem ist die Suizidrate in der Schweiz vergleichsweise hoch. Ein Widerspruch? «Bei einem Suizid zieht man einen Zustand vor, den man nicht kennt. Der sich durch nichts qualifiziert ausser das Nicht-mehr-Sein. Das ist in gewisser Weise paradox», findet auch Pfleiderer.
Was führt dazu, dass die Angst vor dem Leben manchmal grösser wird als die Angst vor dem Tod? «Ein Grund ist sicher der hohe Wert eines aktiven, selbstbestimmten Lebens, der sich in einem grossen Kontrollbedürfnis auswirken kann», meint der Ethiker.
«Wir haben wahnsinnige Angst, unser Gesicht zu verlieren. Das war vielleicht noch nie so extrem wie in Zeiten des Internets.»
«Die Angst vor Kontrollverlust, vor Abhängigkeit, vor sozialer ‹Nutzlosigkeit› ist gross. Ein anderer Grund ist Scham. Wir haben wahnsinnige Angst, unser Gesicht zu verlieren. Das war vielleicht noch nie so extrem wie in Zeiten des Internets.» Informationen verbreiten sich im Internet schnell und es vergisst bekanntlich nichts. Das dürfte ein möglicher Grund sein für die steigende Suizidrate bei Jugendlichen etwa aufgrund von Nacktfotos, die sich unkontrollierbar verbreiten, oder infolge Cyber-Mobbings.
Kann der persönliche Glaube in Situationen der Angst helfen?
«Glaube nach heutigem theologischem Verständnis meint im Kern einen Vertrauensglauben auf Gott. Glauben bedeutet, dass wir unser Leben als sinnvoll empfinden dürfen, egal, wie es endet; und in gewisser Weise ist diesem Vertrauensglauben auch egal, wie es danach weitergeht, wenn es überhaupt irgendwie für uns erlebbar weitergeht», definiert Pfleiderer.
Glauben bedeutet folglich, dass man sich in seinem Leben von Gott geführt und am Ende in Gottes Hand aufgehoben weiss. «Glaube als Gottvertrauen steht zu Selbstvertrauen nicht im Widerspruch», ergänzt der Theologe. «Im Gegenteil: Gerade in Situationen der Scham, des Kontrollverlustes, wenn ich das Gefühl habe, ich bin zu nichts mehr nütze oder niemand schätzt mich mehr, kann der Glaube helfen und das Selbstvertrauen stärken. Er kann enorme Kräfte mobilisieren. Das können wir bei vielen grossen Glaubenden sehen, im Christentum etwa bei Paulus, bei Calvin, bei Dietrich Bonhoeffer oder auch bei Florence Nightingale und Mutter Theresa.»
Hatte Jesus Angst vor dem Tod?
«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!» Laut den Evangelisten Matthäus (27,46) und Markus (15,34) ist das Jesu letzter Satz vor seinem Tod am Kreuz. Das klingt nach schrecklicher Verzweiflung. «Er hatte sicherlich auch Todesangst. Die Frage ist, ob sie so gross war, dass er dadurch sein Vertrauen zu Gott verloren hat», so Pfleiderer. Der Ausruf ist ein Zitat aus dem alttestamentlichen Psalm 22. Darüber ist man sich in der heutigen Forschung einig. Der Psalm endet mit einem Lobpreis Gottes. Das Vertrauen scheint also bei Jesus am Ende die Verzweiflung besiegt zu haben.
«Dennoch ist es aus christlich-theologischer Perspektive wichtig, dass Jesus diese Angst kannte», betont der Theologe. «Wenn wir ihn uns vorstellen als einen, der keine Todesangst hatte, kann er uns in diesem Sinne auch nicht erlösen.» Ein biblischer Jesus, der die menschlichen Emotionen in ihrer Abgründigkeit nicht durchlebte, verliert seinen Wert als Identifikationsfigur und Erlöser.
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Georg Pfleiderer
ist seit 1999 Ordinarius für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Basel. In seinen jüngsten Forschungsprojekten hat er sich unter anderem mit Sünde, Scham und apokalyptischen Zukunftsszenarien beschäftigt.