Im Tessiner Dorf Corippo schmiegen sich jahrhundertealte Granithäuschen an den Berg. Der Alltag hier ist beschwerlich – aber für Ruhe suchende Städter genau das Richtige. Darauf setzen jedenfalls die letzten Einheimischen.
Ein Sonntagvormittag Ende August im Valle Verzasca: In dem Tal, das viele Menschen für das schönste im Tessin halten, geht nichts mehr. Postbusse, Wohnmobile und Pkw stauen sich auf der engen Bergstrasse, die Parkplätze sind längst voll belegt. Alle wollen nach Lavertezzo, wo sich die aus der Römerzeit stammende Steinbrücke Ponte dei Salti über die türkisfarbenen Gumpen der Verzasca spannt.
2017 hatte ein YouTuber ein Kurzvideo hochgeladen, unterlegt mit dem Kommentar: Ganz nahe bei Mailand gebe es einen Schweizer Fluss, »so schön wie die Malediven«. Seither belagern selfiewütige italienische Tagestouristen die Brücke und tummeln sich in den Pozzi, den natürlichen Badebecken der Verzasca. Schilder warnen vor der starken Strömung im eiskalten Wasser – jedes Jahr ertrinken hier mehrere Menschen.
Fast in Sichtweite des Overtourism-Spektakels, nur wenige Kilometer weiter oben im Tal, scheint die Zeit stillzustehen. Nach Corippo – aktueller Stand: zehn Einwohner – verirrt sich kaum jemand. Ein älterer Mann schneidet in seinem Gemüsegarten einen Salatkopf ab. Eine Katze schleicht durch die engen Gassen zwischen den kargen, aus grob gehauenem Granit gebauten Häusern mit den knarrenden Holztüren.
Ein Ehepaar mit Münchner Kennzeichen hievt Koffer aus dem Auto. Es hat über Airbnb ein Rustico gebucht und sucht jetzt nach dem richtigen Haus. Die beiden freuen sich auf die Ruhe in dem abgelegenen Bergdorf, das sie »authentisch« nennen. Sie legen ihre Hände auf die schweren, von der Sonne angewärmten Schieferplatten, mit denen die Dächer der kleinen Häuser gedeckt sind.
Ein Verein soll dem Dorf neues Leben einhauchen
Vielen Einheimischen war Corippo, 1224 erstmals urkundlich erwähnt, zuletzt etwas zu authentisch. Die Bauern lebten hier früher von der Transhumanz, der Wanderweidewirtschaft: Sie pendelten im Rhythmus der Jahreszeiten zwischen Dorf, Alp und den Ebenen nahe dem Lago Maggiore. Corippo war lediglich ihr Wohnsitz auf Zeit. Entsprechend klein sind die Häuser. Viele haben eine Grundfläche von kaum mehr als 15 Quadratmetern. Dennoch wohnten hier Mitte des 19. Jahrhunderts rund 300 Menschen.
Die Steinhäuser wurden an die nächste Generation vererbt. Allerdings nicht an den ältesten Sohn, sondern aufgeteilt unter den Kindern: das Obergeschoss für den Bub, das Untergeschoss mit Küche und Keller für die Mädchen. Es wurde immer enger. Als dann die modernen Zeiten auch das Verzascatal einholten, begann die Landflucht. Niemand wollte mehr ohne Dusche und Heizung leben. Um 1970 hatte Corippo nur noch 70 Einwohner. Die anderen hatten sich gen Kalifornien und Australien aufgemacht.
»Es war eine regelrechte Welle«, erzählt der Architekt Fabio Giacomazzi. Wenn aus dem Dorf kein Freilichtmuseum werden sollte, musste etwas passieren. So entstand die »Fondazione Corippo 1975«, deren Präsident der im benachbarten Maggiatal aufgewachsene Giacomazzi heute ist. 1975 war das Europäische Jahr für Denkmalpflege und Heimatschutz, der unter Denkmalschutz stehende Dorfkern von Corippo wurde damals als beispielhaft ausgezeichnet. Bund, Kanton und Kommune taten sich zusammen, um den Verfall aufzuhalten und dem Dorf neues Leben einzuhauchen.
Die ursprüngliche Idee: Einwohner anlocken, die in vermieteten Häusern ganzjährig wohnen sollten. »Es gibt ein Sprichwort hier«, erzählt Giacomazzi. »Die Hühner legen ihre Eier in ein Säckchen, denn sonst würden sie ins Tal rollen, so steil ist es überall.« Niemand hatte Lust auf so ein beschwerliches Leben. Auch die Pläne für ein Feriendorf verschwanden wieder in der Schublade.