Zürich – Vom 24. März bis 16. Juli 2023 lädt das Kunsthaus Zürich ein zu «Re-Orientations. Europa und die islamischen Künste, 1851 bis heute». Die mit Exponaten unterschiedlichster Art bestückte Ausstellung zeigt die Bedeutung islamisch geprägter Kulturen für die bildende und angewandte westliche Kunst von Wassily Kandinsky bis Gülsün Karamustafa.
Bei «Re-Orientations» handelt es sich um eine exklusive Eigenproduktion des Kunsthauses. Die rund 170 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde und Fotografien, Objekte aus Metall, Keramik und Glas sowie Textilien, Videos, Installationen und ein Animationsfilm stammen überwiegend aus europäischen Sammlungen. Sie sind in dieser Zusammenstellung einmalig in einen Dialog zueinander gestellt. Kuratorin Dr. Sandra Gianfreda hat diese Ausstellung mit einem Team von Expertinnen und Experten seit zwei Jahren vorbereitet. Vermittelt werden die Exponate folgender Künstlerinnen und Künstler im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen: Clara Laila Abid Alsstar, Hélène Adant, Anila Quayyum Agha, Nevin Aladağ, Baltensperger + Siepert, Muhammet Ali Baş, Marwan Bassiouni, Edmond Bénard, Henriette Browne, Carlo Bugatti, William De Morgan, Théodore Deck, Mariano Fortuny y Madrazo, Jean-Léon Gérôme, Karl Gerstner, Jaʿfar ibn Najaf ʿAli, Elisabeth Jerichau-Baumann, Wassily Kandinsky, Gülsün Karamustafa, Bouchra Khalili, Paul Klee, J. & L. Lobmeyr, Henri Matisse, Gabriele Münter, MuhammadʿAli Ashraf, Muhammad Jaʿfar, Muhammad Yusuf, Osman Hamdi Bey, Lotte Reiniger, Charles Claude Rudhardt, Salah al-Din. Sowie viele unbekannte historische Kunstschaffende aus Ägypten, Algerien, Indien, Irak, Iran, Marokko, Spanien, Syrien, Tunesien, Türkei und Usbekistan.
Die Auswahl und der Zusammenhang dieser und weiterer unterschiedlichen künstlerischen Positionen erschliesst sich den Betrachtenden nicht zuletzt durch historische Erläuterungen und Definitionen.
Was sind islamische Künste?
Über die Jahrhunderte hinweg erstreckte sich der islamische Raum über ganz unterschiedliche Territorien: von Südost- bis Westasien und von Nordafrika bis zur Iberischen Halbinsel. Er wurde in der Vergangenheit als «Orient» zusammengefasst – ein im postkolonialen Diskurs heftig diskutierter Begriff. Die Namensgebung «islamische Künste» umfasst den Islam als Kultur und trägt neben den geografischen auch den stilistischen und zeitlichen Unterschieden Rechnung. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Begriff «islamisch» nicht allzu sehr vom Begriff der «westlichen» Kunst, der ebenso pauschal ist und seine Unzulänglichkeiten aufweist.
Islamophilie verlangt Wertschätung und Auseinandersetzung
Die Ausstellung «Re-Orientations» nimmt nicht den weitbekannten Orientalismus ins Blickfeld, sondern eine andere, weniger geläufige Form der Rezeption der islamischen Welt, die «Islamophilie». Sie begann als Wertschätzung der islamischen Künste vonseiten der Gelehrten und Sammlerinnen und mündete in der künstlerischen Auseinandersetzung sowohl in der angewandten als auch bildenden Kunst. Kuratorin Dr. Sandra Gianfreda versteht Islamophilie als Phänomen eines transkulturellen Prozesses. Kulturen stellen nicht in sich geschlossene Einheiten dar, sondern sind miteinander verflochten: hybride Gebilde mit durchlässigen Grenzen, die sich in einem steten Wandel befinden. «In den öffentlichen Debatten von heute über ‹kulturelle Aneignung› und ‹Othering› kann das Konzept der Transkulturalität dazu beitragen, die jeweiligen kulturellen ‹Übernahmen› differenzierter zu betrachten und sie als Teil eines kulturellen Transfers zu verstehen», sagt die Ausstellungsmacherin. In deren zeitgemässen Vermittlungsansatz gehört auch ein kritischer Blick auf die frühere Kunstgeschichtsschreibung.
Initialzündung und Wendepunkt in der Rezeption
Als Initialzündung für die Rezeption der islamischen Künste im 19. Jahrhundert wird die erste Weltausstellung in London von 1851 angesehen, auf der neben anderen islamischen Objekten vor allem die Exponate aus dem indischen Mogulreich eine wahre und folgenreiche Begeisterung auslösten. Nach weiteren Ausstellungen in London, Wien, Paris und Algier setzte die Münchner Ausstellung «Meisterwerke muhammedanischer Kunst» von 1910 neue Massstäbe. Museen, Kunsthändler und Privatsammlerinnen aus mehreren Ländern stellten dafür rund 3’600 Exponate zur Verfügung, darunter wertvolle Teppiche, Keramiken, Metallarbeiten sowie persische Miniaturen. Erstmals wurden die islamischen Objekte als «Meisterwerke» bezeichnet und damit auf die gleiche Stufe wie europäische Gemälde der Renaissancemeister gestellt. Ausserdem wurde der Versuch unternommen, sie wissenschaftlich einzuordnen, was der jungen, im Westen begründeten Disziplin der islamischen Kunstgeschichte einen gewaltigen Antrieb gab. Die ästhetische Rezeption in Europa führte schliesslich zur Kanonbildung der islamischen Künste.
Matisse, Kandinsky, Münter u.a. auf der Suche nach Inspiration
Zur Münchner Ausstellung reisten Henri Matisse, Albert Marquet und Hans Purrmann eigens aus Paris an. Aber auch Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Franz Marc, Le Corbusier, Max Laeuger und andere mehr besuchten die bahnbrechende Ausstellung. Auf ihrer Suche nach neuen Ausdrucksformen gingen sie auch den Stilmitteln der islamischen Künste auf den Grund, passten sie ihren Bedürfnissen an und verinnerlichten sie. In Verbindung mit ihrer eigenen Kultur und den Erfahrungen ihrer Zeit kreierten sie neue, eigenständige Schöpfungen, die sich von den Vorbildern emanzipierten. Diese Spuren können offensichtlich sein, wie im Werk vieler angewandter Künstler, etwa bei dem französischen Keramikmeister Théodore Deck oder bei der österreichischen Glasmanufaktur J. & L. Lobmeyr. In anderen Fällen, wie zum Beispiel bei Wassily Kandinsky oder Paul Klee, sind sie erst auf den zweiten Blick nachvollziehbar.
Die zwei Seiten des Kolonialismus
Die Neugier und Bewunderung für die islamischen Objekte waren häufig rein formalästhetischer Natur, ohne dass die Kunstschaffenden ein vertieftes Interesse an ihrer ursprünglichen Funktion, ihrem jeweiligen Kontext, ihren Schöpfern oder allgemein den Menschen dieser Länder entwickelt hätten. Aus der heutigen Perspektive gesehen, haftet ihrer Beschäftigung daher etwas Oberflächliches, aber auch sich Aneignendes an und spiegelt unterschwellig die hegemonialen Einstellungen der damaligen Zeit wider. So bereisten Henri Matisse, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter und Paul Klee die damaligen Kolonien bzw. Protektorate Algerien, Marokko oder Tunesien und profitierten von den kolonialen Strukturen, die ihnen den Aufenthalt erleichterten. Teil dieses Systems gewesen zu sein und es genutzt zu haben, muss für manche Kunstschaffenden jedoch einen fahlen Beigeschmack erzeugt haben. Matisse beispielsweise war kein Verfechter des kolonialen Systems. Das hinderte den Künstler aber nicht daran, Gegenstände und Textilien aus den von ihm bereisten nordafrikanischen Protektoraten Frankreichs zu kaufen und sie zweckentfremdet als «Gegenstand-Schauspieler» in seinen Werken auftreten zu lassen. Auch hatte er keine Hemmungen, das orientalistische Motiv der Odaliske in den 1920er-Jahren zu vermarkten. Dass er der islamischen Kultur gleichzeitig hohen Respekt zollte, geht aus seinem späten Zitat von 1947 hervor: «Die Erleuchtung kam für mich also aus dem Orient». Sie war ihm aber nicht nur Offenbarung, sondern auch Bestätigung seiner bisherigen Bestrebungen nach einem neuen Bildbegriff.
Kunst vor dem Hintergrund sich wandelnder Kontexte
Ein Beispiel wie dasjenige von Matisse zeigt, dass heutige Wertvorstellungen nicht unreflektiert auf die Vergangenheit angewandt werden können. Wir können heute hingegen diese seit nun über einem Jahrhundert als Meisterwerke betrachteten Bilder kritisch hinterfragen und einen reflektierten Umgang mit ihnen entwickeln – dies nicht zuletzt dank des Blicks zeitgenössischer Künstler und Künstlerinnen, unter denen auch Gülsün Karamustafa ist, Trägerin des europaweit höchstdotierten Kunstpreises für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, des Roswitha Haftmann-Preises, oder Bouchra Khalili, die mit ihren Videos postkoloniale Themen aufgreift. Von Marwan Bassiouni werden neu entstandene Werke seiner «New Swiss Views» zu sehen sein, die den Islam mitten unter uns vor Augen führt.
Das Thema der Rezeption islamischer Künste ist komplex und vielschichtig. Die Kuratorin hat sich daher früh entschieden, den Fokus auf einige wenige Fallbeispiele zu legen, die exemplarisch für ihre jeweilige Epoche stehen. Dabei werden die Unterschiedlichkeit der künstlerischen Ansätze, der Herkunft der Kunstschaffenden und des Landes der Rezeption berücksichtigt. So sind im künstlerischen Werk Einzelner nicht nur formalästhetische, sondern auch darüberhinausgehende Formen der Rezeption festzumachen, die diesem transkulturellen Phänomen andere Dimensionen verleihen.
Die Besucherinnen und Besucher erwartet ein kaleidoskopartiger Rundgang, der im grossen Ausstellungssaal des Kunsthauses nach inhaltlichen Kriterien angelegt ist. (mc/pg)