Kunsthaus Zürich präsentiert «Born Digital. Videokunst im neuen Millennium»

Ausstellungsansicht, Tatjana Marušić, «A Woman Under the Influence - to cut a long story short», 2003. (Kunsthaus Zürich, 2004)

Zürich – Was passiert, wenn Digital Natives eine Ausstellung machen? Sie begeben sich auf die Suche nach Pixeln und werden in der Medienkunstsammlung des Kunsthaus Zürich fündig. Vom 7. Juni bis zum 29. September 2024 präsentiert das Kunsthaus elf Werke, die den Geist des neuen Millenniums atmen. Ein Angebot für Kunstinteressierte, Videofans und Technik-Nerds gleichermassen.

Man könnte es ein verstecktes Juwel nennen: Die Medienkunstsammlung im Kunsthaus Zürich ist eine der grössten der Schweiz. Luca Rey (31), Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grafischen Sammlung, und Éléonore Bernard (31), Medienrestauratorin, entdecken die über 600 Positionen umfassende Sammlung und kuratieren gemeinsam ihre erste Ausstellung. Die elf von ihnen für «Born Digital» ausgewählten Arbeiten entstanden alle zwischen den Jahren 2000 und 2005.

VON ROBOTERN, MANGAS UND PERFORMATIVER PIRATERIE

Inhaltlich fokussiert die Werkauswahl der Ausstellung auf die Aspekte des digitalen Wandels: Yves Netzhammers (1970, CH) & Bjørn Melhus’ (1966, DE) «Die umgekehrte Rüstung» (2002) überzeugt mit damals neuer CGI-Ästhetik. In Cao Feis (1978, CN) «Cosplayers» (2004) inszenieren junge Chinesinnen und Chinesen in der aufstrebenden und stark wachsenden Stadt Guangzhou in Kostümen ihre Manga- und Computerspielhelden, womit eine Überlagerung von virtuellen Welten und der Realität stattfindet. In der grossen 3-Kanal-Videoinstallation «A Woman Under the Influence – to cut a long story short» (2003) von Tatjana Marušić (1971, HR/CH) werden Ausschnitte aus einem Fernsehfilm mittels digitaler Bildbearbeitung komplett verfremdet und zu einer gänzlich neuen Glitch-Ästhetik zusammengesetzt, die stark an digitale Bildstörungen erinnert. Ein anderer Fokus liegt auf Werken, die in besonderem Ausmass den Zeitgeist der Jahrtausendwende vermitteln: «La Suisse existe» (2000) von Christoph Büchel (1966, CH) zeigt die Rede von Adolf Ogi zur Jahrtausendwende, die der Künstler in einem performativen Piraterieakt aufgenommen und damit in den Kunstkontext überführt hat. Der damalige Bundespräsident appelliert in seiner Rede an die Schweizer Bevölkerung, mutig zu sein und weiterzumachen. Passend dazu wird die Arbeit «I love Switzerland» (2002) des Schweizer Videokünstlerduos Com&Com (CH), Marcus Gossolt (1969)/Johannes M. Hedinger (1971), gezeigt. Mit einfacher digitaler Videotechnik wird darin der Schweizer Nationalstolz inszeniert und parodiert. Ebenfalls mit Videoarbeiten vertreten sind Pipilotti Rist (1962, CH), Rita McBride (1960, USA), Diana Thater (1962, USA), Susann Walder (1959–2015, CH) sowie Gabriela Gerber/Lukas Bardill (1970/1968, CH) und Zilla Leutenegger (*1968, CH). Viele der Künstlerinnen und Künstler konnten in der Vorbereitungsphase zur Ausstellung von Luca Rey und Éléonore Bernard zur korrekten Inszenierung und bestmöglichen Konservierung ihrer Werke befragt werden. Dank unterschiedlicher Präsentationsformate kommen sowohl kunstsinnige wie auch technikaffine Menschen auf ihre Kosten.

FRAGEN DER ZEIT IM SPIEGEL DES TECHNISCHEN WANDELS

Ab den 1990er-Jahren fand in der Videokunst ein technologischer Wandel statt: Digitale Speichermedien wie DVDs lösten analoge Videokassetten ab. Die Arbeiten von vielen Kunstschaffenden aus dieser Zeit reflektieren die Globalisierung und spiegeln die radikale Technologisierung der Gesellschaft. Seit der Jahrtausendwende inspirieren popkulturelle Erzeugnisse wie Videogames die Kreativen. Die bildgebende Technologie CGI (Computer Generated Images) tritt hinzu, sowie Hacking und neue Formen von Bildstörungen (z.B. sogenannte Glitches). Dies hat Spuren in der Videokunst hinterlassen. Immer mehr nutzen Kunstschaffende aller Gattungen digitale Technologien für die Produktion ihrer Werke, für Installationen und multimediale Collagen. Durch das breitere Einsatzgebiet verändert sich die Ästhetik der Kunstwerke, ihr Raum- und Zeitbezug und damit das sensorielle Erlebnis für den Betrachtenden. Auch der Diskurs erweitert sich. Und es stellen sich Fragen wie: Wie schulen wir unsere Wahrnehmung für die alltägliche Flut von bewegten Bildern? Wie reagieren Künstlerinnen und Künstler auf den Wandel vom Analogen zum Digitalen? Durch welche Themen zeichnen sich die neuen Perspektiven aus, die ab der Jahrtausendwende Zugang zum globalen Kanon erhalten? Welche Relevanz hat Video für das Kunstschaffen der 2000er-Jahre und was ist das Spektrum der eingesetzten Produktionsmittel?

KUNST- UND MEDIENGESCHICHTE AUCH IN BEGLEITENDER PUBLIKATION

Um sowohl über die Kunst- als auch über Mediengeschichte nachzudenken, vermitteln die beiden Ausstellungsmachenden Éléonore Bernard und Luca Rey zusätzlich zu den Videoarbeiten den Übergang von analogen zu digitalen Medienträgern anhand einiger besonders repräsentativer Beispiele von DVD-Hüllen. Eine den Fokus der Ausstellung erweiternde Publikation enthält Beiträge von Éléonore Bernard, Sophie Bunz, Simone Gehr, Tony Kranz, Luca Rey, Alia Slater, Annine Soland, Kim Stengl, Laura Vuille, ein Vorwort von Ann Demeester und ein Interview mit Tobia Bezzola und Mirjam Varadinis. Es handelt sich dabei um die Fortsetzung einer Reihe von Sammlungspublikationen. Unter dem Titel «Born Digital. Medienkunst 1995–2005» ist sie für CHF 24.– am Kunsthaus-Shop und im Buchhandel erhältlich (Scheidegger & Spiess, 96 Seiten, deutsch).

Die Ausstellung sowie die erforderliche Medienerhaltung und kunsthistorische Aufarbeitung der Werke wurde unterstützt von Memoriav, dem Verein zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturgutes der Schweiz. Auch die Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung unterstützt die Ausstellung. (Kunsthaus Zürich/mc/ps)

Exit mobile version