Kunsthaus Zürich präsentiert Jahresprogramm 2023
Zürich – Das Programm 2023 des Kunsthaus Zürich ist von gesellschaftlichen und politischen Fragen mitgeprägt. Von Käthe Kollwitz und Mona Hatoum, die in ihren Arbeiten Vertreibung und Verletzlichkeit reflektieren, über die Themen-Ausstellung «Re-Orientations», die der Bedeutung der islamischen Künste für die beginnende Moderne im Westen und in der zeitgenössischen Kunst nachgeht, bis zu Marcel Broodthaers’ Befragung von Museen als Institution. Die neue Kunsthaus-Leitung, Ann Demeester, weist mit ersten Ansätzen für 2024 über das von ihrem Vorgänger Christoph Becker gemeinsam mit den Kuratorinnen und Kuratoren entwickelte Programm des kommenden Jahres hinaus.
Im Jahr 2023 organisiert das Kunsthaus Zürich sieben wechselnde Ausstellungen. Die Präsentationen «Niki de Saint Phalle» und «Aristide Maillol» bilden im Herbst den Übergang zu einem epochen- und gattungsübergreifenden Angebot. Das Programm im Einzelnen:
24.2.–21.5.23
FÜSSLI. MODE – FETISCH – FANTASIE
Dem Kunstpublikum zu Zeiten Füsslis (1741–1825) dürfte kaum bekannt gewesen sein, dass sich dieser privat mit dem zeitgenössischen Frauenbild auseinandersetzte, eine Beschäftigung, der er ausschliesslich im Medium der Zeichnung nachging. Rund fünfzig dieser auffällig intimen Zeichnungen werden nun in einer Ausstellung erstmals zusammengeführt. Die dargestellten Frauen begegnen uns darin hocherotisiert, in modischer Aufmachung und mit Frisuren, die exzentrischer kaum sein könnten. Der Fokus auf Füsslis Faszination für die weibliche Sexualität und die moderne Frau, die hier als Figur des Geheimnisses und der gefährlichen Anziehungskraft auftritt, eröffnet zugleich einen allgemeineren Blick auf die Ängste des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Bezug auf Geschlecht, Identität und Sexualität. Eine Ausstellung in Kooperation mit der Courtauld Gallery, London.
24.3.–16.7.2023
RE-ORIENTATIONS. EUROPA UND DIE ISLAMISCHEN KÜNSTE, 1851 BIS HEUTE
Die Auseinandersetzung europäischer Kunstschaffenden mit den Künsten der islamischen Welt wird in «Re-Orientations» unter dem Ansatz der Transkulturalität neu beleuchtet. Die Ausstellung hat zum Ziel, die Bedeutung der islamisch geprägten Kulturen für die bildenden und angewandten Künste in Europa zu veranschaulichen. Der Islam ist seit langem Teil der europäischen Kultur. Gerade in der heutigen Zeit, in der das Stichwort «Islam» in den aktuellen Debatten des Westens Unsicherheit, Ängste oder gar Abneigung auslöst, ist es dem Kunsthaus ein Anliegen, ein differenzierteres Bild aufzuzeigen und das Verständnis zwischen den Kulturen zu fördern. In «Re-Orientations» treten zum einen historische Werke der islamischen Künste in Dialog mit solchen westlicher bzw. westlich geprägter Künstlerinnen und Künstler der beginnenden Moderne. Zum anderen wird auch zeitgenössische Kunst präsentiert. Rund 200 Werke – von Zeichnungen, Aquarellen, Gemälden und Fotografien über Objekte aus Metall, Keramik und Glas sowie Textilien, bis hin zu Videos, Installationen und einem Animationsfilm – veranschaulichen die Vielfalt dieses kulturellen Transfers. Mit Werken von Nevin Aladağ, Baltensperger + Siepert, Marwan Bassiouni, Théodore Deck, Mariano Fortuny y Madrazo, Osman Hamdi, Elisabeth Jerichau-Baumann, Wassily Kandinsky, Gülsün Karamustafa, Paul Klee, J.& L. Lobmeyr, Gabriele Münter, Lotte Reiniger u.a.
14.4.–2.7.2023
GIACOMETTI – DALÍ. TRAUMGÄRTEN
Salvador Dalí (1904–1989) entdeckte das Werk von Alberto Giacometti (1901–1966) im Jahr 1930 in Paris und erkannte in dessen «Boule suspendue» den Inbegriff eines «Objekts mit symbolischer Funktion». Als Teil der surrealistischen Gruppe um André Breton freundete sich Giacometti mit dem katalanischen Maler an, mit dem er einen fruchtbaren künstlerischen Dialog führte. Dieser wird nun erstmals in einer Ausstellung gewürdigt. Dalí und Giacometti imaginierten beide surreale Orte und planten Garten- und Platzanlagen. Sie teilten auch ein gemeinsames Interesse für die Welt der dekorativen Objekte. Um den Austausch zwischen ihnen zu dokumentieren, vereinigt diese konzentrierte Ausstellung eine bedeutende Reihe verschiedener Werke aus verschiedenen Gattungen. Ein wichtiges Element ist die erstmalige Rekonstruktion in Originalgrösse von Giacomettis surrealistischem Projekt einer Platzgestaltung, «Projet pour une place» (1933), das vor dem Hintergrund des intensiven künstlerischen Austauschs mit Dalí zu sehen ist.
Die Ausstellung wurde von der Pariser Fondation Giacometti konzipiert. Im Kunsthaus ist sie um die hier aufbewahrten bedeutenden Bestände des surrealistischen Werks Giacomettis ergänzt.
Unterstützt von der Credit Suisse – Partnerin Kunsthaus Zürich.
30.6.–1.10.2023
MARCEL BROODTHAERS. MUSEUM
Marcel Broodthaers (1924–1976) befasste sich intensiv mit dem Thema Museum. Die Werke des Belgiers bezeugen einen kritischen Blick auf die Institution, der bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Vier Akteure nehmen dabei eine zentrale Position ein und werden in der Kabinett-Ausstellung hervorgehoben: das Museum selbst, die Kunstschaffenden, der Kunstmarkt und die Besucherinnen und Besucher. Die gezeigten Arbeiten umfassen neben Druckgrafik, Fotografie und Film auch installative Werke und bieten die Möglichkeit, über Broodthaers’ Frage nach der Rolle der Museen in der Gesellschaft zu reflektieren.
18.8.–12.11.2023
STELLUNG BEZIEHEN: KÄTHE KOLLWITZ. MIT INSTALLATIONEN VON MONA HATOUM
Rau, ungeschönt, in konservativen Kreisen als «Rinnsteinkunst» verschrien: Kollwitz› (1867–1945) Leben war geprägt von einem rastlosen politischen Engagement mit den Mitteln der Kunst. «Ich will wirken in dieser Zeit», heisst es in einem ihrer bekannten Tagebucheinträge. Bestätigung findet diese Haltung in zahlreichen ihrer grafischen Serien wie dem «Weberaufstand» und dem «Bauernkrieg», die keinen Zweifel daran lassen, in wessen Namen sie spricht und für welche Seite der Gesellschaft sie sich engagiert. Die ungebrochene Gültigkeit von Kollwitz’ Kunst wird anhand von Interventionen der Künstlerin Mona Hatoum (*1952) anschaulich. Auch Hatoum, Trägerin des Käthe-Kollwitz-Preises von 2010, bedient sich einer reduzierten Formensprache, setzt Farbe allenfalls pointiert ein und kreist in ihren Werken um Themen wie Verletzlichkeit, Vertreibung und Konflikterfahrung.
22.9.–14.1.2024
ZEIT. EINE BILDGESCHICHTE VON ZEITBEGRIFFEN
Zum ersten Mal widmet sich das Kunsthaus Zürich dem Thema Zeit als Gegenstand einer epochenübergreifend und transdisziplinär breit angelegten Ausstellung. Die Besucherinnen und Besucher erwartet ein sinnlicher Streifzug durch die Geschichte. Er umfasst über 200 Gemälde, Filme, Installationen, Performances und Realien wie Uhren ab den 1750er-Jahren bis in die Gegenwart. Die Werke zeugen von der Flüchtigkeit des Lebens, von Meditationsmöglichkeiten in der Malerei, vom Wechsel der Jahreszeiten oder einem Finanzmarkt, der inzwischen auf die Millionstelsekunde getaktet ist. Perspektiven wie die physikalische, biologische, paläontologische oder auch jene persönlicher Empfindungen, über die sich während der Covid-Pandemie beinahe alle Individuen bewusst wurden, werden untersucht. Partizipative Performances und Installationen laden dazu ein, sich in der Gegenwart gemeinsam, aber auch kritisch über unterschiedliche Zukunftsmodelle auszutauschen.
In Zusammenarbeit mit u. a. dem Musée international d’Horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds, Arts at CERN und dem Literaturhaus Zürich. Mit Werken von u.a. Giacomo Balla, Julius von Bismarck, Manon de Boer & George van Dam, Abraham-Louis Breguet, Pieter Claesz, Honoré Daumier, Cao Fei, Shoghig Halajian & Ohan Breiding, John Harrison, William Hogarth, Roni Horn, Monica Ursina Jäger, Pierre & Henri-Louis Jaquet-Droz, On Kawara, Herlinde Koelbl, Jürg Lehni, MANON, Sophie Nys, Dieter Roth, Una Szeemann. Unterstützt von Swiss Re – Partner zeitgenössische Kunst und Credit Suisse – Partnerin Kunsthaus Zürich.
27.10.–21.1.2024
ERNST SCHEIDEGGER. FOTOGRAF
Ernst Scheidegger (1923–2016) war dem Kunsthaus Zürich und der Alberto Giacometti-Stiftung eng verbunden. Legendär sind seine Fotos und Filme von Alberto Giacometti. Sie leben – wie auch diejenigen anderer Künstler, etwa von Joan Miró, Hans Arp, Max Bill oder Germaine Richier – von Scheideggers inspiriertem dokumentarischem Blick, der von tiefem Verständnis für das künstlerische Schaffen geprägt war. Bedeutend sind daneben auch Scheideggers Porträtfotografie und seine Reisebilder. Ein die Ausstellung begleitendes Buch stellt die Exponate – darunter auch neue fotografische Fundstücke aus dem Archiv – in den Gesamtkontext von Scheideggers Schaffen.
Bis 8.1.23
NIKI DE SAINT PHALLE. DIE RETROSPEKTIVE
In einer umfangreichen Retrospektive mit rund 100 Exponaten wird die aussergewöhnliche Künstlerpersönlichkeit Niki de Saint Phalle (1930–2002) beleuchtet. Das überaus breite Spektrum ihrer Tätigkeit zeigt sich in Malerei und Zeichnung, in den Assemblagen, Aktionen und grossformatigen Skulpturen, aber auch im Theater, Film und in der Architektur.
Eine Ausstellung in Kooperation mit der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Unterstützt von der Credit Suisse – Partnerin Kunsthaus Zürich.
7.10.22–22.1.23
ARISTIDE MAILLOL. DIE SUCHE NACH HARMONIE
Aristide Maillol (1861–1944) – der «Cézanne der Skulptur» – ist nach Auguste Rodin der bedeutendste französische Bildhauer der frühen Moderne. Ein Erneuerer, aber gleichzeitig zeitlos, verkörpert Maillols sinnliche Kunst die Werte der Klarheit und des Gleichgewichts der Formen, was ihn zum Vollender der klassischen Tradition macht.
Ausstellung organisiert von Kunsthaus Zürich, Musées d’Orsay et de l’Orangerie, Paris und La Piscine, Roubaix, in Kooperation mit der Stiftung Dina Vierny – Musée Maillol.
INTERVENTIONEN IN DER SAMMLUNG
Vom 27.1. bis 4.6.2023 hat die Video-Sammlung des Kunsthauses einen konzentrierten Auftritt. Im Kabinett laufen Filme und Videos jüngerer Kunstschaffender, u. a. von Hannah Weinberger (1988), Raphaela Vogel (1988) und Lawrence Abu Hamdan (*1985).
Im gesamten Kunsthaus brechen thematische Cluster und Interventionsflächen die Grundpräsentation vom 13. bis ins 21. Jahrhundert auf. Sie setzen Akzente zwischen Epochen und Gattungen – bieten Raum für die Werke von Künstlerinnen und Künstlern unserer Zeit, die auf tradierte kunstgeschichtliche Themen Bezug nehmen oder diese herausfordern. Mit Beiträgen an den postkolonialen Diskurs (Kader Attia, Anna Boghiguian), zur feministischen Debatte (Judith Bernstein, Nathalie Djurberg, Tracey Rose, Lungiswa Gqunta) oder zum Umgang mit Raub- und Fluchtkunst. Hierzu wird im Herbst 2023 in den Räumen der privaten Sammlung Bührle unter anderem eine Ausstellung eröffnet, die an die Schicksale jüdischer Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer ausgewählter Werke erinnert. Vorbereitend dazu findet im Frühjahr ein öffentliches Symposium statt.
NEUE DIREKTION: ERSTE IDEEN FÜR DIE ZUKUNFT
Ann Demeester übernimmt am 1. Oktober die Direktion des Kunsthauses. Ihre Einschätzung: «Das Kunsthaus ist nach seiner Erweiterung in eine neue Ära eingetreten. In diesem Moment müssen wir tiefgründig nachdenken über unsere Rolle als Museum in einer Zeit, die voller kultureller und ökologischer Herausforderungen, aber auch neuer Chancen ist. Zudem müssen wir lernen, mit oft schmerzhaften Komplikationen der Vergangenheit umzugehen. Ich freue mich, gemeinsam mit meinem Team, inspiriert von Künstlerinnen, Künstlern und unserem Publikum, ein Programm zu entwickeln, in dem sich freudige Neugier und kritisches Hinterfragen verbinden – wo die Idee des «Transhistorischen Museums» das Jetzt mit Geschichte verbindet und als Anregung dient. Wir werden uns ernsthaft mit den Fragen unserer Zeit auseinandersetzen, ohne «the power of fun» zu vergessen. (Kunsthaus Zürich/mc/ps)