Zürich – Unter dem Titel «Wilhelm Leibl. Gut sehen ist alles!» läuft vom 25. Oktober 2019 bis zum 19. Januar 2020 im Kunsthaus Zürich die erste Schweizer Retrospektive zu einem der wichtigsten Vertreter des Realismus in Europa. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Bildnis und der Figurendarstellung.
Das Kunsthaus zeigt die erste Schweizer Retrospektive von Wilhelm Leibl (1844– 1900), einem der bedeutendsten Maler des 19. Jahrhunderts, der heute nur noch einem kleinen Kreis von Künstlern, Sammlern und Kunstinteressierten bekannt ist. Leibl malt vorwiegend Bildnisse und Interieurs mit ländlichen Figuren, wobei der Schwerpunkt bei ihm und einem Kreis von gleichgesinnten Künstlern – dem sogenannten Leibl-Kreis – stets auf dem «Wie» der malerischen Ausführung liegt. Das Akademische und Narrative tritt bei diesen Zeitgenossen von Manet und Degas entschieden in den Hintergrund.
Durchbruch und Anerkennung in Paris
Der gebürtige Kölner begibt sich zum Studium nach München, wo er schnell mit seiner Begabung auffällt. Auf der «I. Internationalen Ausstellung» von 1869 in München gelingt dem 25-Jährigen noch als Akademiestudent der Durchbruch. Er wird dort von keinem Geringeren als Gustave Courbet entdeckt und nach Paris eingeladen, wo er im Salon des drauffolgenden Jahres mit dem «Bildnis der Frau Gedon» seine erste Goldmedaille erringt. Ab 1873 zieht sich der passionierte Maler und Jäger aufs Land zurück. Von da an widmet er sich in seinen Werken vorwiegend der bayerischen Landbevölkerung und wird deshalb oft missverständlich als «Bauernmaler» bezeichnet. An der Weltausstellung 1878 in Paris stösst er die Starkritiker des Zweiten Kaiserreichs mit dem an Holbein erinnernden Naturalismus seines Genrebilds «Die Dorfpolitiker» (1877) zwar vor den Kopf, verbucht aber einen durchschlagenden Erfolg.
Unter seinen besten Werken befinden sich ausserdem Bildnisse von Künstlerfreunden, Verwandten und ihm nahestehenden Persönlichkeiten des Landadels und des Bürgertums. Durch regelmässige Beteiligung an internationalen Ausstellungen wird Leibl seit den 1890er-Jahren auch in Wien, Berlin, Hamburg, München, Budapest, Basel, Winterthur, Zürich, New York und Washington als einer der führenden europäischen Realisten wahrgenommen. Van Gogh ist von den «Drei Frauen in der Kirche» (1878–1882), einem seiner Hauptwerke, tief berührt.
Wahrheit und künstlerische Form wichtiger als Idealisierung der Wirklichkeit
Mit seinem rigorosen Wahrheitsanspruch begründet Leibl eine eigenständige und moderne Figurenmalerei, in der die Naturwahrheit und das Studium der Alten Meister restlos in das künstlerische Medium umgesetzt werden. Entscheidend für Leibl und seinen Kreis ist «gut sehen» – d.h. dass die Wirklichkeit ungeschönt und frei von Ismen und Ideologien wiedergegeben wird. Mit seiner künstlerischen Haltung, in der Selbstkritik, Zerstörung und Innovation die treibenden Kräfte sind, beeinflusst er Künstler bis heute, angefangen von Liebermann und Corinth über Buri, Kollwitz, Beckmann und Lassnig bis Tillmans. In seiner Rigorosität und kompromisslosen Wahrheitssuche weist Leibl auf die Bildnisserien Giacomettis voraus. Bei den im Kunsthaus Zürich versammelten über 100 Werken – Leihgaben aus Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechien, der Schweiz und den USA sowie aus eigenen Beständen – stehen die rund 60 Zeichnungen den Gemälden gleichwertig gegenüber. Eines der expressivsten Selbstbildnisse des Künstlers stammt aus den Beständen des Kunsthauses.
Die Ausstellung reist anschliessend an die Albertina in Wien. (Kunsthaus Zürich/mc/pg)