Kunsthaus Zürich zeigt «Take Care: Kunst und Medizin»
Zürich – Vom 8. April bis 17. Juli 2022 zeigt das Kunsthaus Zürich in einer Ausstellung mit rund 300 Werken, wie die scheinbar gegensätzlichen Disziplinen Kunst und Medizin die menschliche Physis und Psyche reflektieren. Nachgezeichnet werden Schlüsselmomente der Medizingeschichte vom 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart.
«Gesundheit» ist ein Dauerbrenner. Dabei ist in der Kunst die Beschäftigung mit dem physischen Befinden so alt wie die Kunst selbst. Der sensible Körper ist Arbeitsinstrument und Betrachtungsgegenstand zugleich. Ausgehend von den Sammlungsbeständen des Kunsthauses, wird in sechs Kapiteln das produktive Wechselspiel von Krankheit und Schmerz, Medizin, Pflege und Heilung anhand von 300 Exponaten nachgezeichnet, darunter über 250 von über 40 nationalen und internationalen Leihgebern. Frühe Beispiele stammen aus dem 15. Jahrhundert, die jüngsten von 2022 wurden eigens für die Ausstellung produziert.
AUSSTELLUNG IN SECHS KAPITELN
Sämtliche Medien von Zeichnung und Malerei über Skulptur bis Video, Rauminstallation und Performance sind in dieser asynchron-assoziativen Abfolge wiederzufinden. Der Hauptfokus der Kunstwerke richtet sich auf körperliche Gebrechen. Die Themenbereiche drehen sich um das «Goldene Zeitalter» der Medizin, «Seuchen und Pandemien», «Prophylaxe, Komplementärmedizin und Selbstheilung», «Der diagnostische Blick und das System Spital», «Pharmazie und Spitzenforschung» und schliesslich «Betroffene am Scheideweg vom genormten zum singulären Körper». Altbekannte Namen treffen auf junge Künstlerinnen in ihren Zwanzigern, die das breite Spektrum und die spannende Entwicklung des Diskurses rund um den kranken Körper verdeutlichen.
WECHSEL ZWISCHEN EMPATHIE UND DISTANZNAHME
Ziel der von Cathérine Hug initiierten und konzipierten Ausstellung ist es, die Kunst nicht als Illustratorin der Medizin walten zu lassen, sondern im gegenseitigen Dialog Verständnis für zwei unsere Gesellschaft mitkonstituierende Systeme zu fördern. In ihrer sinnlich-intuitiven Interpretation kann die Kunst wesentlich dazu beitragen, ineinander verschränkte Systeme wie Körper und Geist, Krankheit und Genesung, Glaube und Wissenschaft begreifbar zu machen. Kunst und Medizin sind physisch unmittelbar und erzeugen Empathie – können aber auch grosse Distanz zwischen den Beteiligten herstellen.
SICHTBARMACHEN UND INTERPRETIEREN
Der offensichtlichste Aspekt, der Künstlerinnen mit Medizinern verbindet, ist die Bedeutung, welche beide Gruppen Bildern und folglich dem Sehen beimessen. Bildgebende Verfahren haben die Medizin seit dem Entwickeln des Ophthalmoskops und der Entdeckung der Röntgenstrahlen vor über einem Jahrhundert revolutioniert. Ferner finden sich in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte Beispiele, die zeigen, wie ästhetische Kriterien naturwissenschaftliche Forschungsarbeit massgeblich mitbestimmen können. So erfolgte die Entwicklung der Doppelhelix der DNS, für die der Physiker Maurice Wilkins und die Molekularbiologen Francis Crick und James Watson 1962 den Nobelpreis für Medizin erhielten, gleichermassen nach wissenschaftlichen wie visuellen Kriterien. Somit ist ein gewisser künstlerischer Gestaltungswille den Wissenschaften inhärent. Dieser Anspruch reicht bis in die Renaissance und sogar in die Stundenbücher des Mittelalters zurück: Mit dem Anspruch, neben Wissen auch Schönheit zu vermitteln, stellten Persönlichkeiten wie Hildegard von Bingen, Leonardo da Vinci oder Andreas Vesalius als Erste das Innere des menschlichen Körpers dar. Sichtbarmachen und Interpretieren sind seit jeher Absichten, die Mediziner und Künstler verbinden.
MEDIZIN VERSUS GLAUBENSGESCHICHTE?
Lange wurde der Medizin nicht der Stellenwert beigemessen, welchen sie heute geniesst – und der Kunst in der Medizin wird heute noch nicht die Bedeutung zugeschrieben, die sie dort vielleicht haben sollte. Die Kirche war den Naturwissenschaften im Allgemeinen und der medizinischen Forschung im Besonderen feindlich gesinnt, da letztere mit ihrem evolutionstheoretischen Ansatz die höhere, gottgewollte Weltordnung in Frage stellte. Eine akribisch zusammengestellte exemplarische Auswahl von Beispielen ab dem 19. Jahrhundert, dem «Goldenen Zeitalter der Medizin» (Ronald D. Gerste), mit grossen Konvoluten aus der medizinischen Sammlung der Universität Zürich, der Graphischen Sammlung ETH Zürich, und dem Musée de l’Assistance Publique ‒ Hôpitaux de Paris, zeigen ästhetisch einnehmende Meilensteine, aber auch Irrwege der Medizingeschichte. Realien, also nicht per se als Kunst deklarierte Geschichtszeugen, werden in einen assoziativen Dialog mit Kunstwerken gesetzt. Ein Höhepunkt im Zusammenspiel von Kunst und Medizin ist sicherlich, wenn Wissenschaftler oder Heilkundiger und Künstler sich in einer Person vereinen, wie das bei Andreas Vesalius und Georges Chicotot der Fall ist.
ZUKUNFTSDRANG UND INNOVATION
Im 19. Jahrhundert überschlugen sich die Ereignisse nicht allein in den Bereichen der Industrie, Mobilität und Kommunikation, auch die Medizin setzte Meilensteine in der Antisepsis, der Anästhesie und damit einhergehend in der Chirurgie, der Epidemiologie und der Diagnostik. Im Verlauf technischer Entwicklungen begannen sich Künstlerinnen und Künstler immer mehr für die technisch induzierten bildgebenden Verfahren der Medizin zu interessieren: Als ikonisches Ausgangsbild für dieses Interesse stehen die Schädelröntgenbilder von Claire und Yvan Goll (1927), oder auch Joseph Beuys’ EKG in «Notfalls leben wir auch ohne Herz» (1965/1974). Aufgrund von verbesserten hygienischen Bedingungen, einem ausgewogeneren Verhältnis von Arbeit und Freizeit, aber auch dank Forschungsvorstössen in der Pharmabranche und einem breiteren Zugang zu Medikamenten ist die Lebenserwartung von 64 Jahren für Männer und 68 für Frauen im Jahr 1949 auf 76 und 81 im Jahr 2002 gestiegen. Damien Hirst hat sich bei seinen Medikamentenverpackungs-Displays und «Spot Paintings» eingehend mit der Nomenklatur lebensverbessernder und -erhaltender Faktoren und besonders mit deren Warencharakter auseinandergesetzt. Titel wie «3-Hydroxy-4-Methoxyphenethylamine» stammen aus dem Produktekatalog «Biochemicals for Research and Diagnostic Reagents». Medizinische Technologie ersetzt christliche Theologie, die Gnosis wird Diagnosis. Kein Werk versinnbildlicht dieses Symbol der «Halbgötter in Weiss» anschaulicher als Duane Hansons täuschend echt erscheinendes Abbild eines Arztes in der Sprechstunde.
KRANKHEIT ALS KREATIVITÄTSFAKTOR
In jüngerer Zeit bedienen sich Kunstschaffende der Medizin als integrales Gestaltungselement, sozusagen als physiologischem «Pinsel der Empfindung». Am spektakulärsten ist die «Medizin als Pinsel» gewiss im Zusammenspiel mit den Bereichen der plastischen Chirurgie. Künstlerinnen machen ihren Körper zum eigentlichen Kunstwerk bzw. nehmen an ihm bewusste Veränderungen vor, die nur durch medizinische Eingriffe möglich sind. Ferner thematisieren und hinterfragen Künstlerinnen und Künstler wie Panteha Abareshi, Sabian Baumann, Martin Kippenberger, MANON und Veronika Spierenburg zum einen den Klinikalltag aus Perspektive von sogenannt «Betroffenen», zum anderen den Druck der Gesellschaft hinsichtlich eines «genormten» bzw. idealen Körperbildes. In MANONS «Selbstporträt in Gold» (2012) oder Sabian Baumanns «4bein» (2011) wird dieser Diskriminierung eine positive, auch mit Humor besetzte Geste der Selbstermächtigung entgegengesetzt.
FORTSCHRITT STELLT ETHISCHE FRAGEN
Besonders ethische Fragen sind ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt, wie der weltweite Aufschrei rund um die durch den Biophysiker He Jiankui missbrauchte Crispr-Cas9-Methode (Genschere) zeigt. Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, die von der in dieser Ausstellung vertretenen Fotografin Herlinde Koelbl porträtiert worden sind, haben für Crispr-Cas9 2020 den Nobelpreis für Chemie erhalten. Die Plastiken naturgrosser Körper von Marc Quinn nahestehenden Personen, wie z.B. seinem eigenen Kind, sind aus denjenigen Medikamenten geformt, die eben diese Dargestellten täglich einnehmen müssen, und werfen Grundsatzfragen über lebenserhaltende Massnahmen auf.
Eigens für diese Ausstellung produzierte Arbeiten stammen von Stefan Burger, RELAX (chiarenza & hauser & co) und Veronika Spierenburg. Burger hat sich mit dem Bildarchiv der F. Hoffmann-La Roche Ltd. in Basel und gewisser seiner Protagonisten für dessen Corporate Design wie dem Fotografen Onorio Mansutti und dem Maler Niklaus Stoecklin beschäftigt. Die in Burgers Film gezeigten historischen Abbildungen dienen einzig dem künstlerischen Kontext, sie sind obsolet und sollen nicht mit den heutigen Verhältnissen verglichen werden. RELAX hat eine Installation rund um die Hebamme Adeline Favre und den Themenkomplex der Pflege produziert. Und Spierenburg schliesslich hat einen Film-Essay über ihre Multiple Sklerose-Erkrankung und autologe Stammzelltransplantation vom Herbst 2021 geschaffen.
Die Künstlerinnen und Künstler dieser Ausstellung nehmen uns auf eine Erkundungsreise von Leiblichkeit, Krankheit, Schmerz und Heilung mit, oder, um es in den Worten der teilnehmenden, selbst von Krankheit betroffenen Tänzerin Anna Halprin zu sagen: «The body is living art. Your movement through time and space is art. A painter has brushes. You have your body.» (Kunsthaus Zürich/mc/ps)