Kunstmuseum Bern: Carol Rama – Rebellin der Moderne

Kunstmuseum Bern: Carol Rama – Rebellin der Moderne
Carol Rama in ihrer Atelierwohnung, 1994. (Foto: Pino Dell’Aquila © 2025 Pino Dell’Aquila)

Bern – Sexualität, Wahn, Krankheit und Tod sind die grossen Themen, denen die Turiner Künstlerin Carol Rama (1918–2015) ihr Werk widmete. Wie viele weitere herausragenden Künstlerinnen der Avantgarde erlangte sie erst spät Anerkennung. Diese kam u. a. mit dem Goldenen Löwen der 50. Biennale von Venedig 2003. Das Kunstmuseum Bern widmet dieser Non-Konformistin und Pionierin der feministischen Kunst vom 7.3. bis 13.7.2025 die erste umfangreiche Retrospektive in der Schweiz. Mit rund 110 Werken aus 70 Jahren Schaffen präsentiert Carol Rama. Rebellin der Moderne die vielen Facetten eines durch Rebellion, Radikalität, Experimentierfreudigkeit und Materialvielfalt geprägtes Gesamtwerk. Unabhängig von Schulen und künstlerischen Gruppierungen schuf die Autodidaktin ein unkonventionelles, provokantes und zugleich sehr persönliches Werk, das sich nicht in klare Kategorien einordnen lässt.

Die Prägung der eigenen Biografie: Sexualität, Wahn, Krankheit und Tod Sexualität, Wahn, Krankheit und Tod sind die grossen menschlichen Themen, die sich durch ihr Werk durchziehen.

«Für mich war die Arbeit, die Malerei, immer etwas, das mir das Gefühl gab, weniger unglücklich, weniger arm, weniger hässlich und sogar weniger ignorant zu sein… Ich male, um mich selbst zu heilen.»

Carol Rama von Corrado Levi und Filippo Fossati interview in: C. Levi, P. und F. Fossati und I.Schaffner, «Carolrama», in Impresa per l’arte contemporanea, 4. Januar 1997, ohne Seitenzahl

1918 wurde sie als jüngste Tochter von Marta und Amabile Rama in Turin geboren. Die Firma ihres Vaters fertigte Autoteile und ermöglichte der Familie zunächst ein bürgerliches Leben. Bereits als Jugendliche erlebte Carol Rama, dass ihre Eltern in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden. Als sie ihre Mutter in der Klinik I Due Pini besuchte, schärfte sich ihr Widerstand gegenüber gesellschaftlich gesetzten Regeln und Zwängen, Geschlechterkategorien und -rollen sowie Vorstellungen weiblicher Sexualität. Ihr Vater starb 1942 vermutlich durch Suizid, nachdem seine Firma bankrott ging.

Eine Künstlerin, die sich ständig neu erfindet
In den frühen 1940er-Jahren bezog Carol Rama ihre Atelierwohnung in Turin. Diese wurde zum lebenslangen Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens und zum Treffpunkt der Intellektuellen und Kreativen. Rund alle zehn Jahre entwickelte Carol Rama neue künstlerische Ansätze. Diese werden in der Ausstellung in sechs Kapiteln vorgestellt, die alle einer bestimmten Schaffensphase gewidmet sind. Den Auftakt zur Ausstellung bilden zentrale Arbeiten in Schwarz und Rot aus verschiedenen Werkphasen.

Appassionata: Malerei als Provokation und Rebellion
Mitte der 1930er-Jahren entschloss sich Rama, Künstlerin zu werden und der Dominanz von Männern im Alltag und in der Kunst entgegenzutreten. Ihre Serie von erotischen Aquarellen Appassionata (Die Leidenschaftliche), die zwischen 1936 und 1946 entstand, katapultierte sie ins Zentrum der Avantgarde. Dort thematisierte sie Körper, Geschlecht und Sexualität im Kontext gesellschaftlicher Normen. Nackte Figuren zeigen sich in einem Moment der extremen Verletzbarkeit und strahlen dennoch eine grosse Autonomie aus. Sie sind Rebellinnen – wie die Künstlerin selbst. 1945 sollten die Aquarelle in Turin ausgestellt werden. Doch laut der Künstlerin wurde die Ausstellung noch vor der Eröffnung auf polizeiliche Anordnung hin wegen Obszönität geschlossen. Mit diesen Arbeiten liess Rama das bürgerlich-konservative Umfeld, in dem sie aufwuchs, und das katholische Italien in der Zeit des Faschismus weit hinter sich und ebnete heutiger feministischer Kunst den Weg.

Anti-Porträt: Reduktion im Ausdruck
Mitte der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre entstanden parallel dazu Ölgemälde auf Leinwand, die meisten davon Porträts oder Selbstporträts. Rama befreite das Porträt weitgehend von der Ähnlichkeit mit dem Modell. Reduziert im Ausdruck erscheinen die Figuren flächig, beinahe körperlos, als Ansammlung farbiger Flecken. Einige verlieren ihre Form, vermischen sich mit grotesken und surrealen Elementen und werden zu Mischwesen.

Movimento Arte Concreta: der weitere Weg zur Abstraktion
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wandten sich die Künstler:innen weltweit zur Abstraktion hin. Als Abgrenzung zur Kunst des Faschismus mit seiner realistischen Ästhetik gewann auch in Italien die gegenstandslose Kunst mit einer abstrakt-geometrischen Bildsprache an Bedeutung. Rama trat der Gruppe Movimento Arte Concreta bei. Sie fand damals zu einer klaren, abstrakten Bildsprache und begann mit unterschiedlichen Medien zu experimentieren.

Bricolage: Materialexperimente als Protest
Zu Beginn der 1960er-Jahren öffnete Carol Rama die flache Leinwand und erweiterte diese mit Objekten aus ihrem Alltag. In einer Zeit des gesellschaftlichen und politischen Aufbruchs, der Konsumkritik und des Protests gegen die traditionelle westliche Kunstgeschichte sollten Kunst und Alltag zusammengeführt werden. Diese radikale Forderung fand sich auch bei Künstler:innen der Arte Povera, die später in Turin entstand. Rama malte mit Klebstoff, Emaille-, Öl- und Sprühfarbe, sie verwendete Metallspäne, Farbtuben, Puppenaugen und vieles mehr. Der Dichter Edoardo Sanguineti, ein enger Freund Ramas, bezeichnete ihre Materialexperimente 1964 als Bricolage (Basteln). Dieser Alltagsbegriff, den Claude Levi-Strauss theoretisch aufgeladen hatte, etablierte sich in der Folge in der westlichen Kunstgeschichte.

Gomme
Strenge, beinahe minimalistische Kompositionen prägten seit Beginn der 1970er-Jahre Carol
Ramas Schaffen. In ihrer Werkgruppe der Gomme (Reifen) montierte sie aufgeschnittene Schläuche für Fahrrad- oder Autoreifen auf Leinwände. Form, Raum und Zeit waren dabei ihr Thema. Rama durchbrach jedoch die minimalistische Strenge und schuf vielschichtige, ambivalente Arbeiten geprägt von intensiver körperlicher Präsenz. In der von Fiat geprägten Autometropole Turin stand gebrauchtes Gummi zur Verfügung. Nicht zuletzt Erinnerungen an ihren Vater und seine Firma fanden Eingang in diese Arbeiten.

Späte Rückkehr zur Figuration
In den 1980er-Jahren kehrte Carol Rama zur figürlichen Darstellung zurück. In Italien entstand die Bewegung der Transavanguardia. Die Maler:innen widmeten sich wieder klassischen Medien und Motiven wie der Tafelmalerei und Figuren der antiken Mythologie. Auch in Ramas Arbeiten sind diese Tendenzen sichtbar. Noch in den 1970er-Jahren, lernte sie den Galeristen Luciano Anselmino kennen, der mit seiner Galleria Il Fauno in Turin bereits Man Ray und Andy Warhol vertrat – und bald auch Rama.

Ein langer Weg bis zur Anerkennung
Carol Rama gelangte erst spät zu Anerkennung. 1980 wurde ihr Werk in der bahnbrechenden Gruppenausstellung L’altra metà dell’avanguardia 1910–1940 (Die andere Hälfte der Avantgarde 1910–1940) von Lea Vergine im Palazzo Reale in Mailand präsentiert. Ihre Würdigung mit dem Goldenen Löwen an der 50. Biennale von Venedig im Jahr 2003 kommentierte die Künstlerin folgendermassen:

«Das macht mich natürlich stocksauer, denn wenn ich wirklich so gut bin, kapiere ich nicht, warum ich so lange hungern musste, auch wenn ich eine Frau bin.»

Carol Rama, zit. nach Lea Vergine, L’angoscia è un trip, in: Ausstellungskat. Milan, 1985, S. 45

Ausstellungsinformationen

Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bern. (Kunstmuseum Bern/mc/ps)

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