Kunstmuseum Bern: «Tools for Utopia» – Ausgewählte Werke der Daros Latinamerica Collection

Antonio Dias: To the Police (An die Polizei), 1968, Bronze, Courtesy: Daros Latinamerica Collection, Zürich. (Foto: Peter Schälchli, Zürich © 2020, ProLitteris, Zürich)

Bern – Kunst bricht mit Gewohntem und öffnet den Blick für neue Zukunftsvisionen: Kunst schafft Utopien. Am Anfang jeder Utopie steht eine dystopische Realität. So erzählt «Tools for Utopia» die Geschichte von politischer und sozialer Unterdrückung aber auch von kultureller Aufbruchsstimmung. Innovative Kunstschaffende entwickelten abstrakte Kunst, durch die sie zu einer radikalen Neugestaltung der Gesellschaft beitragen wollten. «Tools for Utopia» zeigt wie Kunst zum Werkzeug kultureller, sozialer und politischer Veränderung in Lateinamerika wird. Die Ausstellung nimmt die Tradition abstrakter und konkreter Kunst u. a. Brasiliens, Argentiniens und Uruguays der 1950er- bis 1970erJahre zum Ausgangspunkt und präsentiert einen Einblick in das künstlerische Schaffen Lateinamerikas.

«Kunstwerke können praktische Werkzeuge zur Verwirklichung von Utopien sein. Die Utopie aktiviert unsere Fähigkeit zu träumen und wird so zu einer Waffe, wie auch Form des Widerstandes.»

Marta Dziewańska, Kuratorin Kunstmuseum Bern

Der Ausstellungstitel greift bewusst den Begriff des «Werkzeugs» auf. Er bezieht sich auf die Geschichte von Kunstwerken, die in verschiedenen sozialen und politischen Kontexten versuchen, die gegenständliche Darstellung zu überwinden, und den Raum jenseits des Bilderrahmens suchen um zu aktiven Akteuren in der Umgestaltung der Gesellschaft zu werden. «Tools for Utopia» umfasst von Gemälden, Plastiken über installativen Arbeiten bis hin zu Film und Fotografie ein breites Spektrum an künstlerischen Arbeiten. Die rund 200 Werke spielen mit unserer Wahrnehmung, erfinden neue Sprachen oder lassen den Angriff auf menschliche Körper nachspüren, wo diese entwertet werden und Gewalt ihre Spuren hinterlässt. Die Schau gibt einen Einblick in das vielfältige künstlerische Schaffen Lateinamerikas und die Themen, die den Kontinent bis heute bewegen.

«Während wir dieses Kapitel der Kunst aus einer historischen Perspektive betrachten, wollen wir zeigen, wie künstlerische Bewegungen in Lateinamerika als Impulsgeber für die kulturelle, soziale und politische Vorstellungskraft jener Zeit gewirkt haben. Wir möchten fragen, was von diesen politischen Ambitionen übrig geblieben ist und wofür sie heute stehen können.»

Nina Zimmer, Direktorin Kunstmuseum Bern – Zentrum Paul Klee

Kunst als Labor – den Rahmen sprengen
Die Kunst soll aufhören zu «repräsentieren» um «Realität zu werden», forderte die brasilianische Grupo Ruptura 1952 in ihrem Manifest und nahm Stellung gegen die «hedonistische gegenständliche Kunst, die dem blossen Vergnügen» diene. Der uruguayische Künstler Rhod Rothfuss thematisierte 1944 erstmals die Rolle des Bilderrahmens in der zeitgenössischen Kunst, ein Gemälde solle «in sich selbst beginnen und enden» deklarierte er, dabei spiele der «Rand der Leinwand eine aktive Rolle in der bildnerischen Schöpfung». Rothfuss lenkte den Blick auf den Rand des Kunstwerks und – in Konsequenz – über den Rahmen hinaus und setzte damit den Grundstein für die Konkrete Kunst in Lateinamerika. In diesem Geist beschäftigten sich Kunstschaffende mit ähnlichen Fragestellungen und organisierten sich in Bewegungen, die mit neuen visuellen Erfahrungen experimentierten. Sie kritisierten die vorherrschende Bildsprache, die historische Ereignisse lediglich abbildete und verteidigten die Kunst als Mittel des Wissenserwerbs und als Anreiz für innovatives Denken. Traditionelle Ausdrucksmittel wie Malerei, Skulptur und Zeichnung wurden bewusst negiert oder weiterentwickelt.

Der Brasilianer Hélio Oiticica etwa versetzt die Malerei von der Zwei- in die Dreidimensionalität. Seine Raumreliefs (1960) hängen frei im Raum und können von allen Seiten betrachtet werden. Mit den Sinnen spielen auch eine Reihe von sogenannten Op Art-Werken. Sie führen buchstäblich vor Augen: Was wir sehen, ist nicht objektiv. Wiederholungen, präzise geometrische Muster und heftige Lichteffekte irritieren die menschliche Wahrnehmung. Die Ausstellung widmet sich diesem Phänomen und zeigt eine Kunst, die die Realität befragen und formen will, anstatt sie nur darzustellen. Die Werke von prominenten Vertreter*innen der Op Art wie Carlos Cruz-Diez oder Julio Le Parc erzeugen nicht nur optische Illusionen sondern erfassen den ganzen Körper der Betrachtenden. Im Falle von Julio Le Parcs Werken tauchen Besuchende physisch in ein Lichterlebnis ein. Das Spiel mit den Sinnen ist mehr als nur spielerische Erkundung des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit; es kann vielmehr politisch gelesen werden. Für Le Parc hatten die optischen Effekte nicht das Ziel, das Publikum zu täuschen. Sie sollten vielmehr als Labor dienen, in dem Betrachtende neue Erfahrungen machen und experimentieren.

Von der künstlerischen Innovation zur gesellschaftlichen Revolution
Ausgangspunkt der Ausstellung sind Werke, die in den 1950er- bis 1970er-Jahren von Kunstschaffenden aus Brasilien, Venezuela, Uruguay oder Argentinien geschaffen wurden. Die Werke entstanden in einer Zeit, in der viele lateinamerikanische Länder von nationalen und internationalen Konflikten zerrissen und von autoritären und korrupten Machthabern regiert wurden. Der brasilianische Künstler Antonio Dias war 1966 selber vor der Militärdiktatur in seiner Heimat nach Paris geflüchtet. Seine Arbeiten aus dieser Zeit thematisieren die Erfahrungen der Repression in Brasilien sowie die Studentenunruhen in Europa. Seine Serie von in Bronze gegossenen Pflastersteinen «To the Police» (An die Polizei) (1968) ist ein ironischer Kommentar, der sich an die Staatsmacht sowohl in Brasilien als auch in Europa wendet. Die Handlungsaufforderung wird in «Do It Yourself: Freedom Territory» (1968) noch deutlicher, wo eine Bodenmarkierung, die aus angedeuteten Grenzen und Öffnungen besteht, den Besuchenden einen Weg vorgibt. Der menschliche Körper wird Teil der Kunst und Werkzeug des Widerstandes. Aber auch ein Mittel zur Selbstbestimmung. Regina José Galindo nutzt ihren Körper als Metapher für die kollektive Masse und setzt sich immer wieder extremen Situationen wie dem Waterboarding aus. Ana Mendietas Selbstportäts sind Ausdruck ihrer Weigerung, den Erwartungen des männlichen Blicks zu entsprechen. In der Kunst wird marginalisierten Gruppen oder verletzten Körpern Sichtbarkeit verliehen – seien es Personen ohne Papiere, Frauen in traditionellen (patriarchalen) Gesellschaften, Transmenschen oder indigene Völker. Kunstschaffende wie die Chilenin Paz Errázuriz treten mit unsichtbar gemachten Menschen in Dialog und führt in ihren fotografischen Essays feinfühlig die Fragilität der Porträtierten vor Augen.

Der Katalog mit 6 ausgewählten Manifesten und 5 aktuellen Gesprächen mit Kunstschaffenden aus Lateinamerika ergänzt die Ausstellung und schlägt eine Brücke in die Gegenwart. Die Schau versucht zu zeigen, inwiefern die lateinamerikanischen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts als Katalysator für die kulturelle, gesellschaftliche und politische Imagination fungierte und stellt die Frage, wofür diese Ideen und Hoffnungen heute stehen. Die Ausstellung und ihr Katalog haben zum Ziel, an die Visionen von Kunst, Politik und Subjektivität anzuknüpfen. Die Gespräche mit den Kunstschaffenden bahnen den Zugang zu ihren Stimmen.

Begleitprogramm zur Ausstellung
Im Februar und März 2021 organisiert das Kunstmuseum Bern zusammen mit dem Institute for Studies on Latin American Art (ISLAA) in New York und dem Zentrum Paul Klee ein akademisches Onlineprogramm «Interactions». Das Programm verbindet Vorträge und Podiumsdiskussionen mit renommierten Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen, Kuratorinnen und Künstlerinnen zum Ausstellungsthema der Kunst als Werkzeug. Detaillierte Informationen werden über kunstmuseumbern.ch/daros verkündet. (Kunstmuseum Bern/mc/ps)

Kunstmuseum Bern

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