Berlin – Reiseziele, die wegen Rekordbesucherzahlen an gnadenloser Überfüllung leiden, sorgten unter dem Stichwort „Overtourism“ dieses Jahr weltweit für Schlagzeilen. Der Widerstand gegen die Urlauber wächst, was zu öffentlichen Protesten von Anwohnern und diversen Massnahmen seitens der lokalen Behörden führt. Auch die internationale Reise- und Tourismusbranche muss Lösungen finden, um die steigenden Besucherzahlen zu steuern, ohne das Wachstum einzuschränken. Darüber waren sich die Experten auf dem 25. World Travel Monitor Forum einig.
«Overtourism wirkt sich nicht nur direkt auf Destinationen, Sehenswürdigkeiten, lokale Infrastruktur und Anwohner aus, sondern auch auf die Reisenden selbst“, erklärt Rolf Freitag, CEO des Tourismus-Beratungsunternehmens IPK International. Er bezieht sich auf eine repräsentative Umfrage, die im Rahmen des World Travel Monitors im September 2017 unter 29.000 internationalen Reisenden in 24 Ländern in Europa, Asien und Amerika durchgeführt wurde. Diese ergab, dass rund 25 Prozent aller internationalen Touristen das Gefühl hatten, dass ihr Ziel in diesem Jahr überlaufen war.
Darüber hinaus gaben neun Prozent – das entspricht rund 100 Millionen internationaler Touristen – an, dass sich die Masse an Besuchern negativ auf ihr Reiseerlebnis ausgewirkt habe. Mit 13 Prozent war dieser Eindruck bei Familien mit Kindern und jungen Reisenden unter 34 Jahren am höchsten. Ein Blick auf die Herkunftsregionen zeigt, dass mit 15 Prozent Asiaten am sensibelsten auf überlaufene Destinationen reagierten.
Alle Urlaubsarten und Destinationen sind betroffen
Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung findet nicht nur in Grossstädten statt. Skigebiete sind die am stärksten überlaufenen Tourismusorte. Laut Umfrage gab fast jeder fünfte internationale Reisende (19 Prozent) an, dass sein Wintersporturlaub von «Overtourism» betroffen war, was zum Beispiel zu langen Wartezeiten an Skiliften führte.
Dass «Overtourism» ein allgemeines Problem darstellt und sich nicht nur auf Städte beschränkt, zeigt, dass andere Urlaubsarten ebenso von zu hohen Besucherzahlen betroffen sind. Etwa jeder zehnte Reisende beschrieb, dass die Qualität seiner Rundreise, Kreuzfahrt, Städtereise, Sonnen- und Strandurlaubs oder seines Urlaubs auf dem Land unter Massentourismus litt.
Mit Blick auf betroffene Städte sind die chinesischen Metropolen Guangzhou (24 Prozent), Shanghai (23 Prozent) und Peking (21 Prozent) Spitzenreiter. Dahinter rangieren Amsterdam und Istanbul (jeweils 19 Prozent) sowie Barcelona, Florenz und Venedig (jeweils 18 Prozent).
Regionales und saisonales Problem
„Overtourism ist schlecht für Natur, Kultur, Einheimische und Touristen gleichermassen. Jedoch ist der globale Tourismus nicht an seine Grenzen gestossen. Viele Destinationen würden sich freuen, mehr Besucher willkommen zu heissen, entweder während des Jahres oder in der Nebensaison. Der Tourismus hat also kein Wachstumsproblem, sondern ein regionales und saisonales Problem“, analysiert Freitag die Ergebnisse.
Lokale Strategien mit allen Interessengruppen notwendig
Verschiedene Experten des Pisa-Forums unterstrichen die Notwendigkeit der internationalen Reiseindustrie, gemeinsam mit Destinationen koordinierte Strategien zum Management von „Overtourism“ zu entwickeln. Solche Strategien könnten sich auf Themen wie die Steuerung der Saisonalität und Besucherströme, die Verbreitung von Tourismusvorteilen wie Arbeitsplätzen und Einkommen unter den lokalen Gemeinschaften sowie Investitionen in die Infrastruktur und den Schutz von touristischen Natur- und Kulturgüter konzentrieren.
Venedig nimmt das Problem «Overtourism» in Angriff
Venedig, das in seinem historischen Kern gerade mal 55.000 Einwohner zählt, gehört zu den Städten, die zunehmend von Überfüllung betroffen sind. Valeria Minghetti, Forschungsleiterin am CISET, dem Internationalen Studienzentrum für Tourismusökonomie der Ca› Foscari Universität Venedig, erklärte in Pisa, dass Massentourismus weit mehr Kosten als Vorteile für die Stadt verursache, einschliesslich Überfüllung, Umweltverschmutzung und Preisanstiege.
Auf die Überfüllung reagierte die italienische Stadt in diesem Jahr mit etlichen Massnahmen. Unter anderem sollen Kreuzfahrtschiffe daran gehindert werden, am Markusplatz vorbeizufahren. Die Initiative „Enjoy Respect Venice“ für verantwortungsbewusste Touristen wurde ins Leben gerufen sowie Bussgelder für Besucher verhängt, die gegen örtliche Gesetze verstossen. Minghetti führte weitere zur Diskussion stehende Ideen aus. Dazu zählen eine Beschränkung der Besucherzahl des Markusplatzes, eine neue Touristensteuer und eine App mit Echtzeitinformationen zur Auslastung. (mc/pg)