Eigentlich war der Plan, eine Woche im Silvretta-Gebiet einige der eindrücklichen Gipfel mit den Skis zu «ertouren» auf dem Weg von Guarda nach Klosters. Aus der Woche wurden wetterbedingt drei Tage und der Piz Buin (Ochsenspitze) war so schneeverweht und abweisend, dass wir ihn links liegen lassen mussten. Es gab dafür eine für uns unvergessliche Tour auf den Dreiländerspitz.
Von Helmuth Fuchs
Der erste Teil des Planes funktioniert noch einwandfrei. Vom malerischen Bündner Vorzeige-Dorf Guarda, am Südhang hoch über dem Inn gelegen, steigen wir mit den Skis 600 Meter durch das Val Tuoi zur SAC-Hütte Chamonna Tuoi hoch (2250 Meter). Das Unterengadin verwöhnt uns mit einem Licht, das schon die Malerei Segantinis durchströmte und inspirierte.
In der Chamonna Tuoi werden wir von Christian Wittwer und seinem Team herzlich empfangen. Die Coronamassnahmen (Hygiene, Maske, Abstand, reduzierte Belegung) werden umgesetzt, mindern das immer wieder spezielle Hütten-Erlebnis zum Glück nur wenig. Mit unserem Freund und Bergführer Urs Tobler bekommen wir ein geräumiges Zimmer mit direktem Blick auf den zwar bekanntesten, aber nur dritthöchsten Berg der Silvretta-Gruppe, den Piz Buin (3312 Meter). Überragt wird er vom Piz Linard (3410 Meter) und dem Fluchthorn (3398).
Das Hüttenleben in der Chamonna Tui hat einen gemächlichen Rhythmus. Da die Berge alle in gut erreichbarer Distanz sind und mit kaum mehr als 1100 Höhenmetern kein nächtliches Aufstehen benötigen, findet das Frühstück zwischen 06:30 und 07:30 statt. Der Blick nach draussen eröffnet wenig Erfreuliches: Wind, Wolken, teilweise leichter Schneefall.
Trotzdem nehmen wir die steile Rampe hinauf zur Fuorcla Vermunt mit der Nothütte (2796 m) unter die Skis. In der kleinen Hütte gönnen wir uns eine kurze, windgeschützte Pause. Danach geht es über den Vermuntgletscher und hinter dem Felsausläufer auf 2928 Metern über die immer steilere Nordwestflanke auf eine Schulter im Westgrat des Dreiländerspitzes. Für einige Minuten gewinnt die Sonne den Kampfe gegen Wind und Wolken und lässt die Weite dieser Gebirgslandschaft mit dem schmelzenden Vermunt-Gletscher erahnen.
Auf etwa 3120 Metern lassen wir die Skis und den Rucksack zurück, montieren die Steigeisen, seilen uns an und machen uns mit Hilfe der Pickel auf den Rest des Weges.
Grenzüberschreitungen leicht gemacht
Wer seine Grenzen erfahren und wenn möglich überschreiten will, macht das im Gebirge besser nicht auf eigene Faust. Wir haben dafür mit Urs Tobler einen Bergführer, der auf jahrzehntelange Erfahrung in den Alpen zurückblicken kann und unter anderen die Gebirgsspezialisten der Schweizer Armee ausbildet. Für uns ein absoluter Glücksfall, mit ihm zu zweit unterwegs sein zu dürfen.
Der ausgesetzte Grat, abwechselnd blank, vereist oder mit Triebschnee, wäre ohne seine Führung und Hilfe für uns unüberwindbar. Urs geht vor, sichert, instruiert in einer abgeklärten Unaufgeregtheit und Sicherheit, die sich auf uns überträgt und so auch die letzte Passage zum Genuss werden lässt. Auf den letzten Metern kreuzen wir noch eine Ausbildungseinheit österreichischer Bergretter, die uns freundlicherweise ihre Seilsicherung benutzen lässt, bevor sie sie abräumen. Länderübergreifende Kooperation auf dem Gipfel im Dreiländereck Tirol, Vorarlberg und Graubünden auf 3196 Metern.
Auf dem schmalen Grat unter dem Gipfelkreuz stellt sich das Bewusstsein um die eigene Bedeutungslosigkeit im selben Masse ein, wie das Gefühl einer unendlichen Freiheit wächst. Alles eingebettet in bizarre Felsformationen, die sich im Wind- und Wolkentreiben verlieren und verändern. Wir dürfen auf diesem Höhepunkt der dreitägigen Tour die eigenen Grenzen ein wenig ausdehnen, gewinnen in einer Krise, welche gewohnte Freiheiten einengt, diese im Übermass zurück.
Der Rückweg zum Skidepot verläuft problemlos, nur wird die Sicht zunehmend schlechter, der Nebel dichter, bis zum völlig konturlosen weisslichen Einheitsbrei. Dazu noch heftiger Wind und bis zu 30 Zentimeter Neuschnee. Urs scheint, ähnlich den Haien, ein zusätzliches Sinnesorgan für die Orientierung zu haben und wir landen nach einem kleinen Ausrutscher punktgenau wieder an der Nothütte auf dem Vermuntpass. Auf der Abfahrt hinunter zur Hütte zeigt sich an einigen Stellen, wie instabil die Neuschneeschicht und die Verwehungen auf der harten Unterlage sind. Kleine Rutsche lassen sich ohne Aufwand auslösen.
Ein Skitouren-Kollege hat am selben Tag etwas weniger Glück, übersieht im weissen Einerlei und Nebel kurz vor der Hütte einen Graben. Ein gebrochener Ski, der Verdacht auf einen Schienbeinbruch und eine Achillessehnen-Zerrung sind das Resultat. Am nächsten Morgen kann er bei besseren Wetterbedingungen von der Rega ausgeflogen werden.
Gewinn durch Verzicht
Der nächste Tag wäre eigentlich für den Aufstieg zum Piz Buin und zum Wechsel in die Silvrettahütte eingeplant gewesen. Doch der anhaltende Sturm mit Schneefall in der Nacht lässt den Plan zur Makulatur werden. So geniessen wir ein etwas ausgedehnteres Frühstück, da die Wetteraussichten für den Verlauf des Tages leicht besser sind.
Wir beschliessen, die Tour am dritten Tag mit der leichten Tour zur Hinter Jamspitz zu beenden. Der Wind pfeift zu Beginn heftig den Hang entlang und macht den Aufstieg ziemlich unerfreulich.
Nach etwa 45 Minuten entkommen wir dem Wind in der ersten Mulde. Die Sonne bricht durch und wir geniessen das grossartige Panorama der Silvretta-Gruppe.
Kurz vor dem Ziel, am Übergang zum Jamtalferner zwischen Hinter Jamspitz und Piz Urezzas beginnt der Wind wieder heftig zu pfeifen, die Wolken nehmen zu. Wir umgehen die Hinter Jamspitze, steigen auf zum zum Jamjoch (3064 m) und von da über den steilen Nordhang zum Gipfel. Wir kommen mit den Skis bis zum Gipfel, verweilen nur kurz und machen uns entlang des Aufstiegs auf den Rückweg.
Zum ersten Mal werden wir jetzt mit unberührten Pulverschneehängen belohnt. Nebst den unvergesslichen Ausblicken sind solche Hänge der Grund, weshalb man sich oft beschwerliche Aufstiege immer wieder antun sollte. Plötzlich sieht Skifahren auch bei uns wieder gut aus, die Spuren ziehen sich rhythmisch geschwungen in den Schnee. Später mit harten und teilweise brüchigen Schichten zeugt nur noch die Spur von Urs von gekonnter Leichtigkeit.
Bei schönstem Wetter, verpflegt mit Radler und selbst gebackener Linzertorte von Christian, machen wir uns auf den Rückweg nach Guarda. Drei Tage voller Erinnerungen, Emotionen, kleinen Strapazen und unvergesslichen Erlebnissen. A revair Val Tuoi.