Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Tourismusverbands Mecklenburg-Vorpommern, im Interview

Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Tourismusverbands Mecklenburg-Vorpommern (Bild: zVg)

Von Artur K. Vogel

Herr Woitendorf, wenn man von Ferien redet, kommt einem Mecklenburg-Vorpommern, kurz MV, nicht als erstes in den Sinn. Was macht MV zur Feriendestination?

Tobias Woitendorf: Mecklenburg-Vorpommern ist schon seit sehr langer Zeit vom Tourismus geprägt; wir haben die höchste Touristendichte Deutschlands. Bei 1,6 Millionen Einwohnern zählen wir offiziell sieben Millionen Gästeankünfte pro Jahr in Hotels, Pensionen und Campingplätzen. Wenn man Ferienwohnungen, private Beherbergung, Hausboote und so weiter mit einbezieht, dürften es eher zwölf Millionen sein. Früher war vor allem der Gesundheitstourismus in den Ostsee-Bädern attraktiv. Heute können wir eine einmalige Dichte an unterschiedlichen Naturerlebnissen bieten.

Aber im Lauf der Corona-Pandemie sind diese Zahlen bestimmt massiv zurückgegangen.

Ja, klar. Ich rede hier von normalen Zeiten vor der Pandemie und den Schliessungen der Gastbetriebe. 2020 haben wir noch einigermassen gut überstanden; 2021 war katastrophal: Im Juni war bei uns, im Gegensatz zum Nachbarland Schleswig-Holstein, noch alles geschlossen. Dieser Unsicherheit fiel fast die ganze Sommersaison zum Opfer.

«Bei 1,6 Millionen Einwohnern zählen wir offiziell sieben Millionen Gästeankünfte pro Jahr in Hotels, Pensionen und Campingplätzen. Wenn man Ferienwohnungen, private Beherbergung, Hausboote und so weiter mit einbezieht, dürften es eher zwölf Millionen sein.» Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Tourismusverbands Mecklenburg-Vorpommern

Gehen wir richtig in der Annahme, dass die Touristen fast ausschliesslich in den Sommermonaten nach MV kommen?

Früher, zu Zeiten der DDR, betrug das Verhältnis tatsächlich 90 zu 10. Aber es beginnt sich zu verschieben. In Corona-Zeiten hat sich die Saison schon bis in den Oktober verlängert. Immer mehr Leute wissen den Frühling, den Herbst und auch die winterliche Einsamkeit und landschaftliche Schönheit zu schätzen. Heute sind wir bei 70 zu 30, und wir arbeiten daran, dass sich die Zahlen ausserhalb der Sommersaison weiter verbessern.

Aber international ausgerichtet ist der Tourismus in MV nicht wirklich. Es sind doch vor allem Berliner und Hamburger, die hier Ferien machen, nicht wahr?

Die Internationalität fehlt tatsächlich. 96 Prozent unserer Gäste kommen aus Deutschland. An zweiter Stelle stehen die Holländer; dann kommen die Dänen und Schweden. Aus der Schweiz haben wir vor der Pandemie 160’000 Gästeankünfte pro Jahr gezählt. Aber die Schweiz hat das Potenzial, nach den Deutschen an die zweite Stelle vorzurücken.

Wie denn? MV ist rund 1000 km von der Schweiz entfernt, etwa gleich weit wie Neapel oder Barcelona. Aber im Gegensatz zu diesen liegt MV, von der Schweiz aus betrachtet, im Norden.

Stimmt. Aber die Verkehrsverbindungen sind gut, auch für jene, die nicht im Auto anreisen: Die internationalen Flughäfen von Hamburg und Berlin mit täglichen Direktverbindungen aus der Schweiz sind nicht weit von MV entfernt. Direkte Zugsverbindungen, auch Nachtzüge, aus der Schweiz in die beiden Grossstädte gibt es ebenfalls. Zudem wird Lübeck Air im Sommer wieder Direktflüge ab Bern und vielleicht auch ab Zürich nach Heringsdorf auf der Insel Usedom durchführen. Und an Sommerwochenenden verkehrt ein Nachtzug ab Basel nach Binz auf der Insel Rügen, der unter anderem in Schwerin, Rostock und Stralsund hält.  

Sie haben vorhin von Naturerlebnissen geredet. Können Sie uns ein paar Beispiele nennen?

Ich weiss gar nicht, wo anfangen: Meer, Luft, Weite, Freiraum, Horizont. Geschützte Naturlandschaften sind uns wichtig; das beweist die Tatsache, dass wir drei Nationalpärke unterhalten, mehr als jedes andere Bundesland. Unterstützt werden Naturerfahrungen durch die relativ tiefe Besiedlungsdichte in MV. Wir wollen die Naturlandschaften erlebbar machen: Wir unterhalten mehr als 30 Naturzentren, und zur Umweltbildung und Naturvermittlung setzen wir z.B. auch Ranger ein.

«Geschützte Naturlandschaften sind uns wichtig; das beweist die Tatsache, dass wir drei Nationalpärke unterhalten, mehr als jedes andere Bundesland.»

Unser Engagement wird auch international belohnt: Die uralten Buchenwälder im Nationalpark Jasmund auf Rügen und im Nationalpark Müritz in der Mecklenburger Seenlandschaft gehören seit 2011 zum UNESCO-Weltnaturerbe «Alte Buchenwälder Deutschlands».

Apropos Müritz: In der Schweiz kommt einem, wenn von Mecklenburg-Vorpommern die Rede ist, vor allem die Mecklenburgische Seenplatte in den Sinn.

Ja, abgesehen von unseren Ostsee-Bädern liegt auch ein Viertel aller deutschen Seen in MV. Für Urlauber ist dort, neben dem Camping, vor allem das Thema Hausboot aktuell. Denn die Seen sind durch natürliche Wasserwege oder durch Kanäle untereinander verbunden. Stellen Sie sich vor: Wer die nötige Zeit und Musse mitbringt, kann tatsächlich von Berlin quer durch Mecklenburg bis nach Hamburg im Boot fahren. 

Ihr Bundesland will auch punkto Nachhaltigkeit zu den Spitzenreitern gehören. Wie drückt sich dies aus?

Bei uns stimmt schon die Grundausstattung: Ein Drittel von MV sind geschützte Landschaften, was unser Bundesland für nachhaltigen Tourismus prädestiniert. Wir haben den Fremdenverkehr nach der Wende, d.h. ab 1990, ganz neu entwickelt. Die Öffentlichkeit und Private haben Milliarden investiert, um unseren Gästen positive und anhaltende Urlaubserlebnisse zu bieten.

Gleichzeitig steigen die Touristenzahlen kontinuierlich an. Wie verträgt sich das mit der angestrebten Nachhaltigkeit?

Richtig. Was die Kapazität betrifft, haben wir wohl eine Limite erreicht. Deshalb fördern wir den Ausbau der Bettenkapazität nicht mehr.

«Die Digitalisierung und die Differenzierung in den Serviceberufen eröffneten neue Möglichkeiten. Damit haben wir die Abwanderung der Jungen stoppen können und verzeichnen jetzt sogar einen positiven Wanderungssaldo.»

Wir haben bis jetzt über die Natur geredet, die Ostsee-Strände und Badeorte, die Nationalpärke, die Seen. Es gibt in MV aber auch attraktive Städte, zum Beispiel Rostock, Schwerin oder die Unesco-Welterbestädte Wismar und Stralsund. Denken Sie daran, den Städtetourismus auszubauen?

Das wird schwierig, denn in unseren Städten gibt es – ausser in bescheidenem Rahmen in Rostock – keinen MICE-Bereich. (MICE ist die Abkürzung für «Meetings, Incentives, Conventions, Exhibitions bzw. Events», die Red.) Aber natürlich gehört der Besuch dieser Städte ins Programm jedes Urlaubers. Auch wenn man Strandferien macht, geht man mal in die Stadt zum Shopping, ins Museum oder zu einem Restaurantbesuch.

Rostock hätte sogar einen eigenen Flughafen.

Ja, aber da sehe ich schwarz. Es hat hier nie einen kontinuierlichen Flugbetrieb gegeben.

MV galt einst als demografisch jüngstes Bundesland. Jetzt siedeln sich hier vor allem Ältere an, Pensionierte, ein bisschen wie in Florida. Viele Junge hingegen sind abgewandert. Zu einer gesunden Entwicklung gehört ein gesunder Arbeitsmarkt. Woher kommen denn die benötigten Arbeitskräfte?

MV ist tatsächlich eine attraktive Region, um den Lebensabend zu verbringen. Die Versorgung und die besonderen Bedürfnisse dieser älteren Generation schafft neuen Bedarf an Arbeitskräften. Aber die Lebens- und Arbeitsbedingungen haben sich verbessert; die Digitalisierung und die Differenzierung in den Serviceberufen eröffneten neue Möglichkeiten. Damit haben wir die Abwanderung der Jungen stoppen können und verzeichnen jetzt sogar einen positiven Wanderungssaldo.


Mecklenburg-Vorpommern
liegt in der ehemaligen DDR und ist das nordöstlichste deutsche Bundesland. Es ist mit 23’200 Quadratkilometern mehr als halb so gross wie die Schweiz, aber mit 1,6 Millionen Einwohnern relativ dünn besiedelt. Hauptstadt ist Schwerin (95’000 Einwohner), die grösste und wirtschaftlich wichtigste Stadt ist Rostock (210’000 Einwohner). https://tourismus.mv/

Tobias Woitendorf,
geb. 1975, arbeitet seit 2007 für den Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern in Rostock, den er seit 2018 leitet. Zuvor war der studierte Literatur- und Kulturwissenschaftler Pressereferent im Ministerium für Gesundheit und Soziales des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Ehrenamtlich ist der Vater von zwei Söhnen als Vorsitzender des erfolgreichen Handballvereins HC Empor Rostock tätig. Zudem sitzt er im Vorstand des Deutschen Tourismusverbandes. Tobias Woitendorf bei Linkedin
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